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Ist die Community tot?

Natürlich war es richtig, sich nach den tragischen Ereignissen von Orlando darüber zu echauffieren, dass die Medien das »Pulse« als Nachtclub bezeichneten, obwohl klar war, dass der Anschlag einer exakt zu definierenden Zielgruppe galt. Natürlich musste man sich über die mangelnde Empathie der deutschen Bundesregierung, namentlich der Kanzlerin, aufregen. Natürlich ist es toll, dass einzelne Personen dafür gesorgt haben, dass morgen mehrere tausend Menschen am in Regenbogenfarben getauchten Brandenburger Tor stehen werden, um ihrer Trauer und ihrem Mitgefühl Ausdruck zu verleihen. Und trotzdem haben mir die letzten Tage gezeigt, dass die Community tot ist. Gestorben an der Vielfalt. Erstickt an der Diversity. So empfinde ich es wenigstens.

Statt zu trauern

Statt zu trauern, wurden sofort Nebenkriegsschauplätze aufgemacht: »Schwulenclub« ginge gar nicht, weil auch Frauen zu Tode kamen. Das sei sexistisch. »Homosexuellenclub« ginge gar nicht, weil da die Ts, Is, Qs und Sternchen fehlen. Wie wichtig ist denn die Buchstabensuppe? Offensichtlich wichtiger als alles andere. Damit niemand zurückbleibt, muss jeder erwähnt werden. Und wehe, im Kontext fällt der Raum für einen Buchstaben geringer aus als für einen anderen!
Statt zu trauern, wurden Merkels Äußerungen – sowohl die erste ohne Empathie wie auch die nicht viel bessere nachgeschobene zweite – von Mitgliedern der »Community« dazu missbraucht, Flüchtlinge zu thematisieren. Oder den Islam als solchen zu verteufeln. An die Opfer hat dabei niemand gedacht. Nur an das eigene Selbstbild.

Statt zu trauern, streiten sich plötzlich viele Stellen darüber, wer es nun zustande gebracht haben möge, den Fehler des Berliner Senats auszumerzen und für den Regenbogen am Brandenburger Tor zu sorgen. Wer es gemacht hat, ist letztlich egal. Wer es nicht gemacht hat, sondern auf den fahrenden Zug aufgesprungen ist, ist viel wichtiger. Denn wenn es um Deutungshoheiten geht, ist die »Community« schnell dabei. Wenn es um Aktivitäten geht, muss erst einmal diskutiert werden. Ergebnisse sind zweitrangig. Oder aber Einzelpersonen machen einfach etwas, ohne das Plenum zu befragen. Ausdiskutieren ist eine Ur-Unart der »Community« – »Machen« steht nicht auf dem Programm, ist aber bewundernswert!

Statt zu trauern, wurden wieder einfache Antworten gesucht und gefunden. Der Islam ist schuld, natürlich. Der ganze Islam. Wie sehr ist eine »Community« wert zu schätzen, wenn sie muslimische Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transsexuelle, Intersexuelle und ganz allgemein queere Menschen mit und ohne Sternchen ausgrenzt, nur weil sie nicht im christlichen Glauben oder zumindest im abendländisch geprägten Weltbild verankert sind?
Ja: Viele Anschläge der letzten Jahre wurden von Menschen ausgeübt, die sich auf den Koran berufen. Der Koran enthält dazu auch genügend Stellen. Auch wenn es tatsächlich viele Moslems gibt, die diese Art von Religionsdurchsetzung ablehnen. Denn der Koran enthält auch andere Stellen.

Ja: Der Attentäter von Orlando hat sich auf den IS berufen. Der IS wird nicht einmal seinen Namen kennen, da es dort nur »Kämpfer« oder/und »Soldaten« – also menschliches Material – gibt. Aber er wäre mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn er dieses Geschenk nicht annehmen und für sich ausnutzen würde.

Ich bin ein Sünder

Doch: Auch das Christentum verübt Anschläge. Ohne Sturmgewehr, aber mit dem, was Kurt Tucholsky schon vor vielen Jahrzehnten als Waffe bezeichnete: mit Sprache. Seit fast sechzig Jahren höre ich unentwegt, vorwiegend aus der katholischen Kirche, dass ich ein Sünder sei. Dabei war ich nie katholisch. Ich höre auf der christlich geprägten »Demo für Alle«, dass ich nur leben darf, wenn ich mir selbst entsage. Und ich lese auf merkwürdigen, katholisch sozialisierten Internetblogs, dass ich linksgrünversifft sein muss, weil ich die Neue Rechte einfach zum Kotzen finde. Ich fand übrigens schon die alte Rechte zum Kotzen. Und trotzdem maße ich mir das Recht an, so zu sein, wie ich bin. Und das kann ich nur, wenn ich dieses Recht auch anderen einräume.

Doch: Auch die Bibel enthält Aufrufe gegen Homosexualität. Interessanterweise überwiegend im Alten Testament, das in seinen Inhalten dem Koran mehr entspricht, als es den islamophoben Kräften unter uns Pastorentöchtern recht sein kann. (Nota bene: Ich bin Pastorenenkel. Beidseitig.) Was ist das für ein Weltbild, das die Berufung auf den Koran geißelt, aber die Berufung auf »datselbe in jrien«, das Alte Testament, ohne Widerspruch akzeptiert? Übrigens: Die wenigen Stellen im Neuen Testament sind keine eigenständigen Erkenntnisse, sondern Bezüge.

Religionen sind gut für den, der sie braucht. Als Stütze, als Guideline, als Stärkung. Religionen – wie immer sie heißen mögen – fangen in dem Moment an zu faulen, wenn sie sich selbst erhöhen … über ihre Mitglieder, über ganze Bevölkerungsgruppen, über Menschen ganz allgemein.

Grabenkämpfe und Deutungshoheiten

»Community« ist gut als Stütze, als Guideline, als Gefühl, Wissen und die Sicherheit, nicht alleine zu sein. Wenn sie funktioniert. »Community« ist aber schlecht, wenn sie sich mit Grabenkämpfen oder Deutungshoheiten auseinanderdividiert.
Ich fühle mich nicht mehr als Mitglied der »Community«, wenn die Nomenklatur über den Inhalt gewinnt. Ich bin auch kein LGBT-Mensch, wie mir das jüngst jemand erklären wollte. Ich bin ein schwuler Mann, der in den letzten Jahrzehnten in seiner Bedeutung für die »Community« immer weiter nach hinten gerutscht ist. Aus Gründen des Proporz’ oder falsch verstandener Solidarität. Dass aus der schwulen Community eine schwul-lesbische, eine LGB-, eine LGBT-, eine LGBTI-, eine LGBTIQ- und eine LGBTIQ*-Community wurde, hätte ihr dienlich sein können. Leider habe ich den Eindruck, dass die Unterschiede wichtiger sind und vermisse die Gemeinsamkeiten. Im politischen, im gesellschaftlichen und auch im Kontext der sexuellen Anerkennung.

Die vielbeschworene Community ist tot. Gestorben an der Vielfalt. Erstickt an der Diversity. Leben einhauchen können wir ihr nur wieder, wenn sich endlich jedes Mitglied der Community mit seinen Erfahrungen einbringt, aber die Befindlichkeiten draußen lässt. Wenn Ziele definiert werden, und die Wege, auf denen sie erreicht werden können, auch gegangen werden. Wenn die interne und externe Ausgrenzung endlich aufhört. Wir waren einmal eine Bewegung. Im Moment sehe ich nur wenig, was mich daran erinnert. Zu wenige bewegen sich. Vielleicht werden es nach Orlando mehr. Zu wünschen wäre es. Aber es ist unerträglich, wenn erst 49 Menschen sterben müssen, um das zu erkennen.

Written by Matthias Gerschwitz

Matthias Gerschwitz, Kommunikationswirt, ist seit 1992 in Berlin mit einer Werbeagentur selbständig. Seit 2006 schreibt er Bücher zu verschiedenen Themen (»Ich erzähle gerne Geschichte anhand von Geschichten«); vorrangig wurde er aber mit seinen Büchern über HIV (»Endlich mal was Positives«) bekannt. Matthias hat schon in der Vergangenheit gelegentlich und aus aktuellem Anlass Artikel für Queerpride verfasst. Anfang 2015 ist er fest zum »netzdenker«-Team gestoßen.

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