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»It’s A Sin« – Schon wieder HIV?

Ep1. Richie

Meine Güte – wir haben 2021. Muss es denn schon wieder eine Geschichte über HIV aus den 80ern geben? So langsam reicht es doch, oder? Immerhin leben wir seit 1996 in der komfortablen Situation, dank einer wirksamen antiretroviralen Therapie die Immunschwächekrankheit in den Griff bekommen zu haben – also zumindest dort, wo die Medikamente verfügbar und bezahlbar sind.

Ist es nicht schon schlimm genug, dass das 1993 durch den Hollywood-Schinken »Philadelphia« entstandene Bild über HIV und AIDS immer noch festbetoniert in vielen Köpfen herumspukt – sogar in jenen, die den Film gar nicht mehr kenne, weil sie (weit) nach 1993 das Licht der Welt erblickt haben?

Jetzt also »It’s A Sin«. Und ja – es muss sein. 

Selten hat mich eine filmische Darstellung so angefasst, mich so in ihren Bann gezogen wie diese fünfteilige Mini-Serie. Nun – ich bin befangen … ich habe die 80er Jahre erlebt, bin schwul und HIV-positiv. Vielleicht habe ich daher auch eine bestimmte Form von Anspruchsdenken und möchte mir die Deutungshoheit über meine eigene Geschichte nicht nehmen lassen.

Viel zu oft habe ich mich nämlich darüber schon ärgern müssen. Aber dieses Mal ist alles anders. »It’s A Sin« ist dokumentarisch, historisch korrekt und trotzdem ein Spielfilm. Die Mini-Serie ist ein Bio-Pic in fünf Leben. Sie vermittelt Lebensfreude, Zweifel, Angst. Sie versetzt den Zuschauer in ein Wechselbad der Gefühle. Sie verzichtet auf jede Art der moralischen Bewertung. Sie ist verdammt gut inszeniert – nach dem klassischen Prinzip »Show, don’t tell«: Sie zeigt in starken Bildern, was sie erzählen will. Und sie hat einen klaren Anfang und ein klares Ende.

Wenn »Philadelphia« heute noch nachwirkt, obwohl sich das Bild von HIV drastisch geändert hat, wenn ein Film wie »Dem Horizont so nah« im Jahr 2019 einem vorwiegend jugendlichen Publikum einen 30 Jahre alten und damit mittlerweile völlig unrealistischen Umgang mit HIV vermittelt, darf man sich nicht wundern, dass Beratungsstellen und HIV-Foren bestürmt werden mit Fragen und Ängsten, die zumeist älter sind als die Fragesteller selbst.

Überall dort, wo ein Ende offen ist, bieten Filme eben die Möglichkeit, die Geschichte dank der vorhandenen Bilder selbst weiterzuspinnen – mit zumindest im Bereich HIV ausgesprochen zweifelhaftem Erfolg.

»It’s A Sin« beschränkt sich in der Darstellung auf einen überschaubaren Zeitraum von zehn Jahren. Das einzige, was der Zuschauer mit Sicherheit weiß: Einige der Figuren werden das Jahrzehnt nicht überleben.

Dabei handelt es sich um Figuren, die einem sehr nahe sind, weil sie der eigenen Generation oder jener der Väter, der Onkel und der Großväter entstammen. Die die besten Freunde der eigenen Väter und Großväter sein könnten. Die der eigene Onkel und sogar der Vater oder Großvater sein könnten – denn Homosexualität und Kinderwunsch haben sich zu keiner Zeit grundsätzlich ausgeschlossen.

Die Figuren sind Menschen, die man kennen könnte, aber nie kennenlernen durfte. Und Ritchie, Colin oder Roscoe sind Menschen, mit denen man nächtelang um die Häuser ziehen möchte, die man als Freunde haben möchte, die man gerne kennengelernt hätte. Genauso, wie ich zum Beispiel gerne meine beiden Onkel kennengelernt hätte, die im Zweiten Weltkrieg gefallen sind.

Wer Kriege verhindern will, muss sich die damit verbundenen Gräuel vor Augen führen. Wer verstehen will, was HIV einmal war, aber heute nicht mehr sein muss, der kommt an »It’s A Sin« nicht vorbei. In Großbritannien hat die Mini-Serie etwas erreicht, wovon so manche offizielle Kampagne nur träumen kann: Die Anzahl der HIV-Tests ist nach der Ausstrahlung um 400% gestiegen. Aber auch, wer einfach nur eine sehr gute Produktion erleben will, wird auf seine Kosten kommen. Apropos Kosten: Schade, dass die Mini-Serie nicht frei empfangbar ist.

Die Medienplattform Rakuten TV zeigt die Mini-Serie seit dem 20. Juni 2021 im Starzplay-Abonnement. 

Written by Matthias Gerschwitz

Matthias Gerschwitz, Kommunikationswirt, ist seit 1992 in Berlin mit einer Werbeagentur selbständig. Seit 2006 schreibt er Bücher zu verschiedenen Themen (»Ich erzähle gerne Geschichte anhand von Geschichten«); vorrangig wurde er aber mit seinen Büchern über HIV (»Endlich mal was Positives«) bekannt. Matthias hat schon in der Vergangenheit gelegentlich und aus aktuellem Anlass Artikel für Queerpride verfasst. Anfang 2015 ist er fest zum »netzdenker«-Team gestoßen.

Russell T Davies – der kreative Kopf hinter »It’s A Sin«

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