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Die Lebenslüge der Konservativen

»Mit Gesetzestexten haben wir es nicht so«, könnte derzeit der Standardsatz so manchen Politikers der Unionsparteien lauten, unabhängig vom Geschlecht. Es scheint, als genüge es, Gesetze in Form zu gießen; sich an den Wortlaut zu halten, ist wohl out.

Nicht anders ist das peinliche Gerangel um die rechtliche Gleichstellung Homosexueller zu verstehen. Stetig wird auf Art. 6 des Grundgesetzes verwiesen, der Ehe und Familie unter besonderen Schutz des Staates stelle. Nur – was eine Ehe ist oder wie sie beschaffen sein soll, steht dort nicht. Insofern verteidigen Konservative einen Artikel, der gar nicht zur Diskussion steht. Übrigens: Dass Mütter besonders von der staatlichen Gemeinschaft zu schützen seien, wie es auch dort steht, halten allein erziehende Frauen auch für ein schönes Märchen.

Katherina Reiche, das »Käthchen von Potsdam«, wird nicht müde, die Zukunft Deutschlands in der heterosexuellen Beziehung zu sehen. Ihr Zitat vom August 2012: »Unsere Zukunft liegt in der Hand der Familien, nicht in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Neben der Euro-Krise ist die demografische Entwicklung die größte Bedrohung unseres Wohlstands« löste einen Sturm der Entrüstung aus. Hier scheint das Käthchen – genau wie ihr literarisches Vorbild – nach wie vor der Magie erlegen zu sein; es sind nämlich genau die von ihr protegierten Heterosexuellen, die sich gesamtheitlich einen Dreck um die Zukunft Deutschlands zu kümmern scheinen. Eine immer größere Anzahl dieser Spezies verweigert sich schlicht dem Nachwuchs und damit der Fortschreibung der Gesellschaft. Lag die Geburtenrate 1960 noch bei 2,37 Kindern/Frau, sank sie bis 2010 auf 1,39 Kinder/Frau. Oder anders ausgedrückt: Wurden 1993 noch knapp 800.000 Kinder geboren, waren es 2011 nur noch etwa 663.000. Dem gegenüber stehen übrigens etwa 850.000 Sterbefälle. Deutschland stirbt aus, Deutschland verarmt – und die Homos sind natürlich schuld daran. Gell, Frau Reiche?

Was könnte die Verweigerung der gleichen Rechte für Homosexuelle an dieser Situation wohl ändern? Recht und billig denkende Menschen werden sagen: »Nichts!« – und sie haben Recht. In der Union scheint sich allerdings die Angst auszubreiten, dass mit Öffnung der Ehe für Homosexuelle bislang rechtschaffene Ehemänner und -frauen den heimischen heterosexuellen Herd verlassen und scharenweise zu homosexuellen Partnern überlaufen könnten. Welch’ grausige Vorstellung – insbesondere für Homosexuelle!


Andere Politiker versteigen sich darauf, dass es sich nicht lohne, tausende von Gesetzen für eine Minderheit zu ändern. Welche Gesetze denn, bitte sehr? Das Grundgesetz hält den Ehebegriff offen, das BGB auch. Im Buch 4, Abschnitt Familienrecht, finden sich ausschließlich Formulierungen wie »Eheschließende«, »Eheleute« und »Ehegatten« – völlig geschlechtsneutral. Vielleicht ringt sich einer der Gegner der Gleichstellung ja endlich mal durch, und belegt seine kruden Äußerungen mit den entsprechenden Paragraphen. Dann hätten wir doch wenigstens eine Diskussionsgrundlage. Ach, und was die Minderheit betrifft: Ich wage zu behaupten, dass es in Deutschland mehr Homosexuelle als Hoteliers gibt. Und für die genügte weiland ein Federstrich.

Liebe Konservative und solche, die es sich nicht verkneifen können: »Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung«, sagt ein befreundeter Jurist oft angesichts rechtlicher Streitigkeiten. Vielleicht lest ihr einfach mal die Gesetze und beschränkt Euch nicht auf die freie Interpretation des Textes. Wir können sonst die Legislative ja auch abschaffen und eine Auslegungs- und Geschmackskommission einführen. Wer sich dort um den Vorsitz prügeln wird, kann man jetzt schon erahnen …

»Denk’ ich an Deutschland in der Nacht …« – Heinrich Heine lässt grüßen. Leider ist es – nicht nur, was die Gleichstellung Homosexueller betrifft – derzeit aber auch am Tage nicht viel besser …

Written by Matthias Gerschwitz

Matthias Gerschwitz, Kommunikationswirt, ist seit 1992 in Berlin mit einer Werbeagentur selbständig. Seit 2006 schreibt er Bücher zu verschiedenen Themen (»Ich erzähle gerne Geschichte anhand von Geschichten«); vorrangig wurde er aber mit seinen Büchern über HIV (»Endlich mal was Positives«) bekannt. Matthias hat schon in der Vergangenheit gelegentlich und aus aktuellem Anlass Artikel für Queerpride verfasst. Anfang 2015 ist er fest zum »netzdenker«-Team gestoßen.

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