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Der Realitätsverlust am rechten Rand

Heute würde meine Mutter 92 Jahre alt. Sie hat 1924 das Licht der Weimarer Republikwelt erblickt und die »bösen« zwölf Jahre zwischen 1933 und 1945, wie es damals so üblich war, im BdM und im Arbeitsdienst verbracht. Sie ist in einer Zeit aufgewachsen, in der männliche Homosexualität verboten war; sie musste darüber auch niemals nachdenken, denn sie wusste zumindest von keinem schwulen Mann in der engeren und weiteren Umgebung ihrer Familie.

Und doch ist sie über ihren Schatten gesprungen, als sich später der jüngste Sohn als schwul outete. Sie ist zuvor über ihren Schatten gesprungen, als es zeitweise einen arabischen Schwiegersohn gab und als selbst die Schwangerschaft einer anderen Tochter zunächst nicht zu der im konservativen Verständnis erwarteten Eheschließung führte.

Sie ist über ihren Schatten gesprungen, als sie ihren ältesten Sohn mit dreißig Jahren zu Grabe tragen musste und sie ist über ihren Schatten gesprungen, als ein anderer Sohn beschloss, in die für sie unerreichbar scheinende »Neue Welt« überzusiedeln.

Sie hat als Mutter ihre Kinder früh losgelassen, weil die Kinder wussten, dass im Zweifelsfalle die Arme immer offen sind. Warum ich das erzähle? Meine Mutter, die durch alle Höhen und Tiefen eines Lebens gegangen ist, hatte immer ein Auge für die Realität.

Obwohl sie viele ihrer eigenen Wünsche und Visionen der Zeit geschuldet nicht in die Realität umsetzen konnte, hat sie niemals mit ihrem Schicksal gehadert, sondern immer den zweiten Weg gesucht, der sie durchs Leben führte.

Und trotzdem hat sie sich dabei selbst niemals vergessen, aber sie hat sich auch niemals zu wichtig genommen. Sie hat viel erreicht. Sie hat sich sogar trotz ihrer Zugehörigkeit zu einer anderen Generation in gewisser Weise emanzipieren können. Sie wusste, dass »miteinander« besser ist als »gegeneinander«.

Dass Ärmel aufzukrempeln mehr Erfolg verspricht, als mit dem Finger wahllos auf andere, angeblich Schuldige zu zeigen. Das hat sie ihren Kindern, also auch mir, mit auf den Weg gegeben. Und dafür bin ich ihr dankbar. Dankbar insbesondere, weil ich gelernt habe, dass ein Problem, wie immer es auch heißen mag, nicht davon verschwindet, dass man es benennt und beklagt, sondern dass man es anpackt, dass man es löst.

Dass nur lösungsorientiertes Handeln den Weg nach vorne ermöglicht. Und dass man sich an Meriten und Lorbeeren vergangener Tage zwar erfreuen, sich aber nicht darauf ausruhen kann.

Demokratie ist die Verteidigung der Grundrechte

Zu den Meriten und Lorbeeren unseres Staates gehört zweifelsfrei das Grundgesetz, auch wenn es unter verschwörungstheoretischen Aspekten gerne für ungültig erklärt wird. Zu den Errungenschaften dieses Grundgesetzes gehören das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Pressefreiheit und die Versammlungsfreiheit.

Diese Rechtsansprüche sind aber kein Ruhekissen, sondern müssen tagtäglich aufs Neue verteidigt werden. Verteidigt werden gegen jene Kräfte, die die demokratischen Mittel und Wege nutzen, um die Demokratie zu gefährden; jene Kräfte, die sich zum Vorreiter einer Bewegung machen, die nur ein Ziel hat: jede Bewegung zunichte zu machen.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung enthält das Recht auf freie Meinungsäußerung. Nicht mehr und nicht weniger. Es enthält nicht das Recht auf freie Hetze oder auf Lüge. Es enthält, und hier beginnt bereits die Differenzierung, die Möglichkeit, öffentlich zu hetzen und zu lügen – allerdings sollte man die Konsequenzen, die der Rechtsstaat für solche Fälle bereithält, einkalkulieren.

Und die Konsequenz steht ebenfalls im Grundgesetz – und sogar im selben Artikel. Der Trend zum Lesen eines Zweitsatzes hat sich in gewissen Kreisen offensichtlich noch nicht durchgesetzt.

Lieber krakeelt man »Zensur!«

»Zensur« ist der Versuch der Informationskontrolle durch staatliche Stellen. So erklärt es das Netz. Der Versuch, den Bundesjustizminister dafür verantwortlich zu machen, dass eine privatwirtschaftliche Plattform wie Facebook unter Berufung auf ihre (zugegeben: sehr undurchsichtigen) Gemeinschaftsstandards Beiträge löscht oder User sperrt, ist auch nicht mehr als das: ein Versuch.

Man könnte sogar sagen: ein netter, aber unbegründeter, zum Scheitern verurteilter Versuch. Denn wenn wir uns erinnern, war es die Mehrheit der Facebook-User, die sich (zu Recht) darüber aufregten, dass Hetze, Verunglimpfung und Beleidigung ungestraft über dieses »soziale« Medium verbreitet werden durften.

Der Bundesjustizminister hat nichts anderes getan, als die Gültigkeit des deutschen Strafrechts für den deutschen Verbreitungsraum einzufordern und in Absprache mit dem Betreiber eine Kommission einzusetzen. Das ist nicht nur sein gutes Recht, das gehört sogar zu seiner Amtspflicht. Nur – weiter geht sein Einfluss trotz immerwährender anderslautender Behauptungen nicht.

Rechtsstaat ja – aber nur, wenn er mir dient

Es ist daher ein Witz, wenn jemand wie Mirko Welsch, Sprachrohr der »Homosexuellen in der AfD«, Strafanzeige gegen Heiko Maas stellt, weil Facebook ihn gesperrt hat. Ähnlich sinnvoll wäre es, wenn ich meinen Lebensmittelmarkt verklage, weil die Ampel vor der Türe rotes Licht zeigt. Die sinnlose Aktion des Saarländers zeigt das Ausmaß des Realitätsverlustes, der am rechten Rand galoppierend grassiert. Sie ist das untrügliche Zeichen einer hausgemachten Störung der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung.

Dasselbe gilt für den in seinem Berufsleben mehrfach geschassten und nunmehr selbsternannten Chefredakteur eines Internet-Blogs. David Berger instrumentalisiert die gesamte im rechten Spektrum verortete Presse, um die von Facebook verhängte kurzfristige Sperre seines Gaystream-Auftritts als Zensur zu brandmarken.

»Zensur«, das sei ihm erneut ins Stammbuch geschrieben, ist die staatliche Einflussnahme auf freie Meinungsäußerung. Da sich Berger aber seiner Meinung auch nach der Sperre frei entäußern konnte, sogar auf seinem Blog!, kann keine Zensur vorliegen. Hingegen ist der selbst ernannte Gralshüter der freien Meinungsäußerung selbst ein Zensor ersten Ranges: Missliebige Kommentare werden gelöscht, missliebige Kommentatoren geblockt.

Nota bene: Wenn sich der Betreiber eines Internet-Blogs zum Chefredakteur hochstilisieren kann, kann ich meine Wohnung zum Königreich ausrufen und mich zum Monarchen machen. Oder Visitenkarten drucken lassen, die mich als »Intendanten« ausweisen, weil ich einen Youtube-Kanal betreibe. Das hätte ähnliche Auswirkungen …

Vielleicht braucht er den Titel des selbst ernannten »Chefredakteurs«, um sich im sicheren Hafen der Pressefreiheit zu wähnen. Nur – auch dort wurde er niemals von staatlichen Stellen belästigt.

Nur von einigermaßen vernünftigen Menschen, die es leid sind, wenn er bewusst Falschmeldungen oder mit falscher Konnotation kommentierte Meldungen verbreitet – so z.B. davon phantasiert, dass die Kanzlerin am Attentat von Orlando Mitschuld trage oder dass es bei der Mahnwache für die Opfer dieses Attentats am Brandenburger Tor »antisemitische Vorfälle« gegeben habe, weil ein offensichtlich verwirrter Mann dort fast täglich ein Plakat hochhält.

Vielleicht ist es dem salbadernden Theologen entgangen, dass der Pariser Platz ein öffentlicher Ort ist, an dem sich auch Menschen aufhalten dürfen, die mit einer dort stattfindenden Versammlung nichts zu tun haben?

Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung

Um dem Realitätsverlust am rechten Rand entgegenzuwirken, sei erneut ein Blick ins Grundgesetz empfohlen. Dort steht im Art. 18: »Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, verwirkt diese Grundrechte.«

Ach nee … das Grundgesetz gilt ja nicht. Es ist ja keine Verfassung. Oder wie war das?

Written by Matthias Gerschwitz

Matthias Gerschwitz, Kommunikationswirt, ist seit 1992 in Berlin mit einer Werbeagentur selbständig. Seit 2006 schreibt er Bücher zu verschiedenen Themen (»Ich erzähle gerne Geschichte anhand von Geschichten«); vorrangig wurde er aber mit seinen Büchern über HIV (»Endlich mal was Positives«) bekannt. Matthias hat schon in der Vergangenheit gelegentlich und aus aktuellem Anlass Artikel für Queerpride verfasst. Anfang 2015 ist er fest zum »netzdenker«-Team gestoßen.

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