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Smalltown Boy – Der Besuch in der alten Heimat

Als ich Anfang des Jahres eine Einladung zu einem Familientreffen in der alten Heimat erhielt, waren meine ersten Worte “auf gar keinen Fall”. Statt dessen lag mir der Gedanke, für die Familienfeier nach Flögeln, einem Dorf mit gerade einmal 631 Einwohnern im Geestland in Landkreis Cuxhaven in Niedersachen anzureisen und dafür für die World Pride in New York City zu verzichten, völlig fern. Doch die weite Anreise von New York stellte das kleinere Problem dar, da ich mit dem Begriff Heimat eher gemischte Gefühle verband. 

So wie viele andere Teenager auch, hatte ich keine einfache Jugend erlebt und fuhr jeden Tag den knapp 9 Kilometer langen Weg zu der Schule mit dem Fahrrad, um Hänseleien im Schulbus zu entgehen. Gerade in der 80er Jahren erschien es alles andere als “cool”, schwul zu sein. Sehr viele ignorante Dorfbewohner machten die Gay Community für die AIDS Krise verantwortlich und es gab keine Politiker und nur wenig Schauspieler und Sänger, die zu ihrer Sexualität standen. Und tatsächlich sollte es auch bis zum 11. Juni 1994 dauern, bis der Paragraph 175, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte, abgeschafft wurde. 

In den letzten 25 Jahren hat sich zum Glück sehr viel geändert. Die Schwulenbewegung konnte sehr viel erreichen, Heirat und Kinder sind heute in vielen Ländern kein Thema mehr und auch ich bin stolzer Vater einer 4 jährigen Tochter, arbeite in New York und konnte mir den einen oder anderen Traum erfüllen Aber als ich selbst noch einer dieser “Smalltown Boys” war, sah das Leben ganz anders aus und so musste ich bereits mit 11 Jahren mit Anfeindungen klar kommen, während ich für mich selbst noch nicht einmal realisiert hatte, ob ich nun auf Männer oder Frauen stand. 

Was mir in der damaligen Zeit sehr gut geholfen hatte, war die eigentliche Message der US Fernsehserie “Fame” – arbeite hart, glaub an Dich und Deine Träume und sei Dein eigener Held. Das waren für mich nicht nur Worte, sondern einer der Hauptgründe, warum ich mich nicht länger verstecken wollte, sondern schon bald auf der Theater Bühne unserer Schule stand und meinen Mobbern zeigte, dass ihre Attacken keine Wirkung haben würden

Als ich vor einigen Tagen zufällig das Musikvideo “Smalltown Boy” des englischen Sängers Jimmy Somerville auf Youtube fand, das sich 1984 30 Wochen in den deutschen Charts hielt, war das jedoch auch eine Erinnerung an eine eher etwas dunkle Zeit in meinem Leben gewesen. Denn trotz all des Selbstbewusstseins waren diese Jahre eine sehr schwere Zeit gewesen, die keine Junge im Alter von 11 Jahren erleben sollte.

Jimmy Somerville sang vielen von uns aus der Seele, da es in seinen Texten in erster Linie um Homosexualität und um die Isolation und Ablehnung der jüngeren Generation Schwuler in ländlichen Gegenden ging, die sie sehr oft dazu zwingt, ihre Heimatorte zu verlassen. In dem Musikvideo wird Somerville von seinen Freunden ermuntert, im Schwimmbad “Hallo” zu einem jungen Mann zu sagen, den er interessant findet. Die Annäherung schien erfolgreich gewesen zu sein, bis er von seinem Crush und dessen Freunden verprügelt wird. Als die Polizei den Jungen nach Hause bringt, lernen seine Eltern zum ersten Mal von seiner Sexualität. Während seine Mutter zu ihm steht, kann der Vater nicht über seinen Schatten springen. Am Ende umarmt Somerville seine Mutter zum Abschied und verlässt die kleine Stadt und trifft im Zug nach London seine Freunde wieder, die immer zu ihm standen und zu ihm stehen werden.

Als ich das Video sah, fragte ich mich, wie viele von uns “Smalltown Boys” irgendwann in einem solchen Zug sassen und mit Vorfreude einem neuen Leben entgegen blickten, da es in dem Dorf oder der kleinen Stadt für uns einfach nicht gut gelaufen war. New York war für mich immer eine Stadt gewesen, in der ich mich schnell Zuhause gefühlt hatte und ich werde nie meine erste Nacht im legendären Nachtclub  “Roxy” vergessen, in der ich in der Tat mit mehr als nur offenen Armen empfangen wurde. Und auch wenn sich mein Leben seit der Geburt meiner Tochter geändert hatte, fiel es mir immer einfach, in diesem Leben aufzugehen und dabei vielleicht auch ein wenig die alte Heimat zu vergessen, die ich bereits seit Jahren nicht mehr besucht hatte. 

Aber auch wenn es manchmal einfacher ist, einen Schlussstrich zu ziehen und den Menschen, mit denen wir nicht immer im Einklang waren, vollkommen aus dem Weg zu gehen, habe ich mich gerade wegen meiner Tochter gefragt, ob ich nicht einfach über meinen Schatten springen sollte, da das Leben kurz ist und wir irgendwann nicht mehr die Menschen treffen können, mit denen wir nicht nur schlechte sondern auch viele gute Erinnerungen verbunden haben.. 

Und so traten meine Tochter und ich schliesslich Ende Juni unsere Reise nach Europa an. Nach einen Business Meeting im extrem heissen Madrid relaxten wir am Strand in Sitges. Und als ich meine Tochter im Meer spielen sah und ein Glas Sangria trank, dachte ich mir, dass es nicht besser werden konnte, bevor ich Stunden später auf einer Matinee Party in Barcelona erkannte, dass man auch in seinen 40ern noch sehr viel Spass mit attraktiven Spaniern auf der Tanzfläche haben kann.

Als wir am nächsten Tag am Nachmittag in Paris ankamen, besuchten wir als erstes die Grabstätte des legendären Ballet Tänzers Rudolf Nureyev, der von vielen als der talentierteste seiner Generation bezeichnet wird. Nach knapp 2 Tagen in Versailles, einem Besuch des Eifelturms und Channel Stores ging es schliesslich mit dem Zug nach Hannover weiter. Da die Deutsche Bahn auch nicht mehr das ist, was sie einmal war, sollte diese Anreise ganze 9 Stunden dauern, nachdem ein Zug komplett ausgefallen war. 

In meiner alten Studienstadt erlebten wir drei wunderbare Tage am Maschsee, trafen alte Freunde und genossen das schöne Wetter, das sich jedoch pünktlich zum Familientreffen am Flögelner See verschlechtern sollte. Ich muss gestehen, dass ich mich fragte, ob dies ein Vorbote gewesen und ob diese Reise wirklich eine gute Idee gewesen war, bis ich schliesslich aus dem Wagen in Flögeln stieg und meiner Familie mit über 60 Mitgliedern gegenüber stand.

Mit meiner Tochter an meiner Hand begrüßten wir alle und es gab unzählige Umarmungen und nette Unterhaltungen. Und während mein kleines Mädchen die Gelegenheit nutzte, immer wieder Zeit mit ihrer Oma zu verbringen, die sie schon seit über 3 ½ Jahren nicht mehr gesehen hatte, fühlte ich etwas, das ich früher immer vermisst hatte – Akzeptanz. Und auch wenn ich mich seit den 80ern Jahren so bemüht hatte, das dörfliche Leben hinter mirch zu lassen und meinen Weg zu gehen, bin ich noch heute für diesen langen Tag am See in Flögeln dankbar. 

Bereits am Abend fuhren wir nach Hamburg weiter, unsere Maschine verliess am folgenden Tag um 6 Uhr morgens den deutschen Boden Richtung London und am Abend kamen wir schon wieder in New York an. Eigentlich wollte ich als nächstes einen Artikel über uns Jungs auf Fire Island schreiben, aber ich dachte statt dessen, dass ich diese diese Story lieber all den Smalltown Boys widme, die wie auch ich ihren Weg im Leben finden mussten und irgendwann erkannt haben, dass es manchmal nicht schaden kann, die alte Heimat wieder zu besuchen, selbst wenn sie in einem Kuhkaff wie ich selbst aufgewachsen sind. (-: 

Zum Autoren: Der Autor und Banker Derek Meyer lebt mit seiner Tochter in New York City und engagiert sich seit 2010 aktiv im Kampf gegen AIDS. Seine Bücher „Coming Out in New York“, „Baby, Fame & Inspiration“ und „Live as Heroes“ sind im Handel erhältlich. Kontakt: derekmeyer.nycity@yahoo.com 

Written by Derek Meyer

Derek Meyer wird im Rahmen einer Artikel Serie über das Leben in New York schreiben. Er hatte bereits in seinem Debüt Roman „Coming Out in New York“ die Auf und Abs des Lebens in der New Yorker Gay Szene beschrieben und meldete sich knapp 2 Jahre später mit seinem zweiten Buch „Baby, Fame & Inspiration“ zurück. Beide Bücher sind auf www.tredition.de und Amazon erhältlich.

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