Wer die Begriffe schwules Dating-Portal oder Dating-App hört, denkt zunächst an (mindestens) halbnackte Männer, an den Austausch pornographischer Bilder, an unzüchtige Angebote und an oberflächliche Chats mit nur einem Ziel: dem schnellem Sex. Das ist sicher nicht falsch, aber dennoch zu kurz gedacht. Immerhin erlauben Dating-Portale und -Apps den Kontakt rund um den Globus, aber nicht nur zur Verabredung horizontalen Vergnügens am Urlaubsort. Sie könnten auch zum Austausch von politischen Informationen genutzt werden.
Wie bitte? »Politische Informationen«?
Ja, genau. Was hindert uns eigentlich daran, die Millionen von schwulen Männern auf der ganzen Welt verbindende Technologie zur Information, zum Austausch und zur Planung von lokalen, regionalen und nationalen, wenn nicht sogar internationalen Maßnahmen zur Verteidigung und/oder Durchsetzung der Ziele Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für die LGBTQ-Community einzusetzen? Nun wird man nicht jede Kontaktaufnahme aus Ghana – dies soll keine Diskriminierung sein, sondern bezieht sich auf ein mittlerweile wieder abgeebbtes Gayromeo-Phänomen – als politischen Hilferuf (miss-)verstehen müssen; die Idee, ein so umfänglich existentes Netzwerk auch für etwas Anderes als die körperliche Befriedigung zu nutzen, ist aber so abwegig nicht.
Vor etwa einer Woche gab Hornet – nach eigenen Angaben mit mehr als 18 Millionen Usern das weltweit größte schwule soziale Netzwerk – bekannt, dass man landesweite Proteste gegen die Trump-Administration unterstützen werde. Die erste Aktion soll der #ResistMarch für Mitglieder und Freunde der LGBTQ-Community und »People of Color Equality« am 11. Juni in Los Angeles sein. Der #ResistMarch ist aber nicht nur irgendeine Veranstaltung, sondern findet an Stelle der Parade zum L.A. Pride 2017 statt: »Wenn die Rechte von Randgruppen bedroht werden, sind die Rechte aller Menschen bedroht«, sagt Brian Pendleton, Organisator des L.A. Pride und Initiator des #ResistMarch.
»Wir sind dem Hornet-Team dankbar für die Unterstützung, aber noch mehr sind wir begeistert, dass man dort genau versteht, warum wir auf die Straße gehen müssen.« Um das zu erleichtern, wird Hornet mit Vorab-Informationen, Geo-Caching und Push-Nachrichten alle Details zur Aktion in Echtzeit zur Verfügung stellen. Auf diese Weise sollen die Nutzer auf dem Laufenden gehalten werden; sie bekommen die Möglichkeit, sich selbst einzubringen, Statements abzugeben und Fotos der Demonstration zu teilen.
Informationsmedium für die Community
Bei Hornet ist man sich der Verantwortung bewusst: »Die Stimme unserer Generation verbreitet sich durch die sozialen Medien, und auf diesem Wege können wir Millionen von LGBTQ in allen Erdteilen erreichen. Es war nie so notwendig wie heute, sich zu verabreden, auf die Straße zu gehen und dafür einzutreten, dass bestehende Rechte nicht beschnitten werden«, wird Hornet-Chef Sean Howell zitiert. Und Geschäftsführer Christof Wittig ergänzt, dass für Hornet im Gegensatz zu anderen Dating-Portalen die schwule Kultur und das Selbstverständnis im Mittelpunkt stehe, das weit mehr als nur der flüchtige Moment sei. Man trete ja nicht nur für Partnerschaft und Gesundheit ein, sondern wolle auch ein verlässliches Informationsmedium für die Community sein, da man nur so etwas verändern könne.
Brian Pendleton verlässt sich aber nicht nur auf das eine Netzwerk. Im Januar erstellte er ein Facebook-Event für den #ResistMarch; mittlerweile teilen fast 24.000 Interessierte die Veranstaltung fleißig in ihren Netzwerken. Fast 9.000 Menschen wollen teilnehmen. Übrigens wird am selben Tag (11. Juni) in Washington D.C. der National LGBTQ March stattfinden. Hornet will auch diesen, wie auch viele weitere Demonstrationszüge innerhalb und außerhalb der USA unterstützen, natürlich ohne Kosten für die Veranstalter. Nach Möglichkeit sollen die #ResistMarchs im Rahmen der jeweiligen Gay Pride-Veranstaltungen stattfinden.
Brexit-Protest via Grindr?
Vor diesem Hintergrund bekommt die Meldung über Grindr-Zugriffsversuche in den ehrwürdigen Londoner Houses of Parliament eine ganz neue Bedeutung. In nur einem Monat verzeichnete das WLAN-Netzwerk mehr als eine Viertelmillion Zugriffsversuche von Besuchern, Parlamentsmitarbeitern und Politikern auf die schwule Dating-App. Es handelt sich in der Tat auf Zugriffsversuche, denn einige Seiten, wie eben Grindr, können über das offizielle Parlamentsnetzwerk nicht erreicht werden.
Nicht erfasst sind dabei hingegen jene Anfragen, die z. B. über private Smartphones ohne WLAN-Verbindung laufen. Trotzdem bleibt die Zahl beeindruckend: 272.000 Aufrufe aus einem einzigen Gebäudekomplex in nur einem einzigen Monat sind sicherlich auch für Grindr ungewöhnlich. Zum Vergleich: Im selben Monat waren es bei Tinder knapp über tausend Versuche, und Seiten wie Fab Swingers, Swinging Heaven und YouPorn kamen gerade mal auf ein paar hundert Hits.
Die Daten, die aufgrund einer parlamentarischen Anfrage veröffentlicht wurden, wurden ab Mai 2016 jeweils auf die Monate des vergangenen Jahres heruntergebrochen. Dabei ging es um Webseiten und Aktionen, welche über das WiFi des Parlamentsgebäude laufen, und zwar sowohl über das Parlamentsnetzwerk wie aber auch über das Guest WiFi. Damit wurden alle gezählten Seiten von den Abgeordneten, deren Mitarbeitern, den übrigen Angestellten sowie Gästen aufgerufen.
Ein Sprecher des Parlamentes beeilte sich zu erklären, dass »Seiten mit anstößigem Inhalt« (wie immer das zu verstehen ist) »nicht über das offizielle Parlamentsnetzwerk oder das Guest WiFi« erreicht werden könnten. Auch versuchte er die hohe Zahl herunterzuspielen, indem er darauf verwies, dass auch »viele Pop-up-Fenster und Werbungen« mitgezählt worden seien, die die User vielleicht gar nicht wahrgenommen hätten.
Im Parlamentsgebäude stehen den Abgeordneten und Mitarbeitern insgesamt etwa 8.500 Computer zur Verfügung. Es seien aber auch die Daten der persönlichen Geräte mit ausgewertet worden, sofern sie im WiFi des Parlamentsgebäudes eingeloggt waren. Grindr für eine Verabredung zum Protest gegen den Brexit im Stil der oben genannten Hornet-Aktion zu nutzen, steht aber (derzeit) wohl nicht zur Debatte …