Michel Foucault war einer der bedeutendsten Philosophen, und in seinem strukturalistischen Denken spielten insbesondere die Ausgestoßenen eine große Rolle: Gefangene, Geisteskranke, Behinderte. Foucaults eigene Homosexualität machte ihn immer dann sensibel, wenn Vorurteile eine Gesellschaft beherrschten. Was er als falsch empfand, prangerte er öffentlich an. Eine dankbare Erinnerung zum 30. Todestag.
Michel Foucault war die Galionsfigur der Schwulenbewegung
Michel Foucault lebte offen schwul, machte seine Homosexualität aber erst in den letzten Jahren seines Lebens zum Gegenstand seiner gedanklichen Forschungen. Sein großes Thema – und damit auch der Kontext, in dem die Homosexualität angesiedelt war – lag vielmehr auf dem weiten Feld der Sexualität insgesamt, in der sich nach Foucaults Überzeugung Ab- und Hintergründe der menschlichen Gesellschaft, Machtstrukturen und politische Verhältnisse widerspiegeln. In intellektuellen Kreisen waren seine Werke zu Lebzeiten schon weit über die Grenzen Frankreichs hinaus als „Beststeller“, in Deutschland entdeckte ihn die Schwulenbewegung allerdings erst nach seinem Tod. Seine Bücher sind bis heute in 22 Sprachen übersetzt und haben an Aktualität nicht eingebüßt.
Eines der ersten prominenten Aids-Opfer
Michel Foucault wurde am 15. Oktober 1926 in Poitiers als Sohn eines Chirurgen geboren. Damit war eine wissenschaftliche Karriere vorgezeichnet, doch Foucault trat bewusst nicht in die Fußstapfen des Vaters, sondern schlug die Karriere des kritischen Denkers ein. Bereits drei Jahre nach dem Abschluss seines Philosophie- und Psychologiestudiums veröffentlichte er 1954 sein erstes, viel beachtetes Werk „Psychologie und Geisteskrankheit“ über die Geschichte der Psychatrie. Die Verknüpfung von Gegenwartskritik, Literatur, Psychologie, Philosophie und Historie in einem Werk war neu und irritierte nicht nur die Intelligenzija. Doch blieb dies das Markenzeichen des Michel Foucault. 1970 schon der Höhepunkt in Foucaults wissenschaftlichem Sein: Er wurde an das Pariser „Collège des France“ berufen, bis zum heutigen Tage quasi der Olymp der Denker. Hier lehrte er bis zu seinem Aids-Tod 1984.
Entrechtete konnten auf Foucault zählen
Michel Foucault stellte sich immer wieder mit großer Überzeugung an die Stelle der Entrechteten. Egal, ob sie in Gefängnisse geworfen oder in Irrenanstalten eingepfercht und mit Zwangsjacken fixiert waren, was damals noch an der Tagesordnung war. Er engagierte sich gegen die Diktatur des Schahs in Persien oder machte sich 1981 mit der Schauspielerin Simone Signoret auf den Weg nach Polen, um dort die oppositionelle Gewerkschaft „Solidarnosc“ zu unterstützen. Gelebte Ausdrücke seiner Überzeugung, wonach „nichts haltloser ist als ein politisches Regime, das der Wahrheit gleichgültig gegenübersteht, und nichts gefährlicher ist, als ein Regime, das sich anmaßt, die Wahrheit vorzuschreiben.“
„Sexualität und Wahrheit“ – Michel Foucaults Hauptthema
Wer sich mit Michel Foucault ernsthaft beschäftigt, muss wissen, dass er seine zahlreichen Werke als „Fragmente einer Autobiographie“ verstand. Ihm ging es um die Übereinstimmung von Denken und Erleben, und nicht um die Theorie der Theorie willen. Sein Auseinandersetzen mit der Sexualität wurde dabei zu einem Hauptthema, 1976 erschien der erste von mehreren geplanten Bänden „Sexualität und Wahrheit“ – eine breit angelegte Untersuchung zur Geschichte der Sexualität, ein Meisterwerk gar, denn Foucault setzte damit das um, was er von Veröffentlichungen insgesamt erwartete: Ernsthaftigkeit, frei von Schnörkeln und überflüssigen Adjektiven. Drei Bände konnte er vollenden, sechs sollten es ursprünglich werden. Auf der Suche nach Wahrheit thematisiert Foucault unter anderem, warum das sexuelle Verhalten und das Ausleben bestimmter sexueller Praktiken Gegenstand moralischer Sorge und Beunruhigung sind. Oder weshalb sexuelle Leidenschaft politisch sein kann, vielleicht gar sein muss. Spätestens da wurde der große Philosoph zur weltweiten Galionsfigur der Homosexuellenbewegungen.
Foucaults Passionen: S/M und die Freundschaft zu Hervé Guibert
Was Foucault thematisierte, hatte seine Entsprechung im erlebten Handeln. Grenzerfahrungen zu machen und Momente der Ekstase auszuleben, dies war für ihn keine graue Theorie. Seit der Schwulenemanzipation Anfang der 1970er Jahre genoss er die zunehmende Freizügigkeit, er frequentierte Saunen und Bars und praktizierte leidenschaftlich Sadomasochismus (S/M): „S/M ist eine Subkultur, ein Erfingungsprozess. Eine Quelle der Lust!“ bekannte er einmal in einem Interview. Vermutlich bei seinen ausschweifenden Aufenthalten in San Francisco infizierte er sich mit HIV, das damals noch als eine Art Krebs galt, der nur Schwule befällt. Diese These, die damals auch das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ in einer Titelstory aufwarf, amüsierte Foucault: „Ein Krebs, der ausschließlich Homosexuelle betrifft, nein, das wäre ja zu schön, um wahr zu sein. Das ist ja zum totlachen!“
AIDS = Schwulenkrebs? Foucault fand’s „zum totlachen“
Am 3. Juni 1984 brach Foucault in seiner Küche zusammen und wurde in ein Pariser Krankenhaus verbracht. Als er dort am 25. Juni 1984 an den Folgen von Aids starb, ließ seine Familie beschämt jeden Hinweis darauf in der Krankenakte kaschieren. Offiziell starb er an einer „rätselhaften Blutkrankheit“, eine posthume Beleidigung, eine Zumutung gar für Michel Foucault, der stets zur Wahrheit mahnte. Auch die pikierte französische Öffentlichkeit wollte von Aids als Todesursache nichts wissen, das passte einfach nicht zu ihrem Säulenheiligen. Engster Freund und Vertrauter von Foucault war der Fotograf und Romancier Hervé Guibert, und noch sieben Jahre nach Foucaults Tod, als Guibert in dem Romanbericht „Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat“ Foucaults körperlichen Verfall durch Aids beschreibt (in dem Buch nennt Guibert Foucault „Muzil“), sah sich dieser einer massiven Kritik ausgesetzt, wurde gar als „Nestbeschmutzer“ verunglimpft. In der französischen Literatursendung „Apostrophes“ am 16. März 1990 zitierte damals Moderator Bernard Pivot aus dem Guibert-Buch: „(…) Ich hielt lange seine Hand. Dann drückte ich meine Lippen auf seine Hand, um sie zu küssen. Wieder zu Hause, seifte ich mir die Lippen ab, beschämt und erleichtert. (…)“ Dann rief Pivot gespielt empört aus: „Das ist schrecklich!“ Und Guibert, selbst schon von Aids gezeichnet und todkrank, antwortete: „Ja, das ist schrecklich. Doch es ist die Wahrheit.“ Diese Replik des Hervé Guibert, der nur 21 Monate nach der „Apostrophes“-Sendung starb, hätte Michel Foucault ganz bestimmt gefallen.