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Alte Schwule und Coming Out? Fast unmöglich, wie Heinz es zeigt.

Es ist nicht wirklich neu, was die Zeitung „Frankfurter Neue Presse“ schreibt: Ältere Homosexuelle (alte Schwule) finden nur schwerlich Anschluss. Oft sind sie einsam und haben somit kaum Möglichkeiten, sich jemandem zu öffnen. Ein Teufelskreis. Sich bekennen zu können und im Idealfall auch einen Partner zu finden, das scheint da fast unmöglich. Vor allem, wenn ältere Männer auf Jüngere stehen.

Schwule unterscheiden sich nicht zu heterosexuellen Männern in ihrem Bedürfnis, im Alter eine Lebensbilanz zu ziehen. Und wer dann auf sein Leben blickt, blickt vielleicht in einen Abgrund. Und der blickt manchmal recht unerbittlich zurück. Wenn man etwa über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg ein falsches Leben gelebt hat. Ein Leben also mit Frau und Kindern, obwohl ihr Herz doch eigentlich den Männern gehört.

Alte Schwule kennen ein Doppelleben

Dies irgendwann nicht nur sich selbst, sondern auch seinem Umfeld einzugestehen, das nennt man im Neudeutsch „Coming-Out“. Doch damit ist es nicht so einfach. Man müsste bekennen, dass man sich selbst oder gar seine eigene Familie über viele Jahre hinweg belogen, dabei vielleicht gar ein Doppelleben auf Klappen oder in Cruising-Areas geführt hat.

Warum wir Heinz dankbar waren

Der Autor dieses Reports hat das mit Heinz erlebt. Heinz ist vor zehn Jahren verstorben – mit 82. Was ein „Coming-Out“ ist, mussten wir ihm erst erläutern, wir, seine „Aufguss-Clique“. Jeden Samstag trafen wir uns in der Berliner „Apollo“-Sauna am Zoo. Im Kern waren wir zehn schwule Männer, erst im Alter von 28 bis 48, dann waren wir elf schwule Männer im Alter von 28 bis 78.

Wir nahmen 1998 den damals 78-jährigen Heinz nämlich auf in unsere Clique. Ihn, der bisher einsam an der Bar saß oder in seiner Kabine im Untergeschoss wartete um, naiv, wie er es sein konnte, dort auf die kleine oder gar große Liebe zu warten.

Wir nahmen ihn nicht aus Mitleid in unsere Mitte auf, wir taten es aus Zuneigung heraus. Und wir hatten auch ein großes Interesse an ihm und an seiner Geschichte. Eine Geschichte, bei der uns schnell klar wurde, wie dankbar wir, die Jüngern sein dürfen. Heute dürfen wir als Schwule so leben, wir wir es tun. Offen und nicht beschämt. Heinz war mit seinen Erzählungen und vor allem mit seiner Wärme schnell zum Kern der Clique geworden.

Wer etwa samstags nicht zum Aufguss kommen konnte, entschuldigte sich zuvor telefonisch brav bei ihm, ansonsten hätte Heinz sich Sorgen gemacht. Er passte auf uns auf, und wir passten auf ihn auf. Etwa dann, wenn die gierigen Stricher in seine Kabine in der „Apollo“-Sauna kamen, um ihm für 150 Mark die große Liebe vorzuheucheln. Oder wenn ihm die Hitze im Aufguss zu viel wurde, was selten passierte.

Dann begleitete einer ihn hinaus und beruhigte ihn, wenn er sich für den Abbruch des Saunagangs schämte. Wer Heinz beim Verlassen der Saunakabine etwas Böses hinterherrief, zog sich den Zorn der Clique zu, und dann war Ruhe im 80-Grad-Karton.

Heinz zeigt: Es gibt kein richtiges Leben im Falschen

Heinz lebte, wie er es selbst sagte, fast ein Leben lang in seiner Lüge verstrickt. Nur ein einziges Mal liebte Heinz einen Mann, in den 1940er Jahren war das, da war er so um die 20 Jahre jung. Es muss ein intensives Erlebnis gewesen sein. Denn immer und immer wieder erzählte er von dem wunderbaren Sex in einer Scheune mit diesem schönen Jungen, den er noch immer genau beschreiben konnte.

Keiner in der Clique wäre je auf die Idee gekommen, die Augen zu rollen über die immer währende Wiederkehr der Geschichte am Samstagnachmittag in einer Schwulensauna. Oder wenn er sie alljährlich am 6. Dezember erzählte, wenn Heinz und die Clique sich zum Nikolaus-Essen trafen. Heinz und sein Freund sind erwischt und verraten worden, nie hat Heinz erfahren, was mit seinem schönen Liebhaber passiert ist.

Nur soviel: „Sie werden ihm den Rosa Winkel ans Revers geheftet haben“, sagte er mit bitterer Stimme, und er sagte dies nur ein einziges Mal. Heinz heiratete dann irgendwann eine Frau, weil in der bleiernen Adenauer-Zeit die Situation der Schwulen nicht wirklich besser wurde. Sie bekamen ein Kind, das Familienglück aber war nicht das Glück des Heinz.

Heinz war 70 als die Frau Anfang der 1990er Jahre starb, und fortan war er allein. Seinen jugendlichen Liebhaber hat Heinz nie vergessen, doch dem Sohn öffnete er sich nie, und Freunde hatte er kaum.

Für Heinz war somit ein „Coming-Out“ schier unmöglich. Das war zu dieser Zeit ja selbst noch für junge Schwule schwer, und Einrichtungen wie den „Lebensort Vielfalt“ in Berlin (siehe Foto), wo heute ältere Schwule in einer WG zusammenleben und viele Angebote sich speziell an sie richten, gab es damals noch nicht.

Und so hätte Heinz der Bericht in der „Frankfurter Neue Presse“ von heute vielleicht ein wenig die Seele gestreichelt, denn er hätte lesen können, dass er bei weitem nicht alleine ist. Das einzige, was er sich traute, war der samstägliche Weg aus seiner Wohnung in Berlin-Spandau in die „Apollo“-Sauna am Zoo, die es so heute nicht mehr gibt.

Wenn junge Schwule alte Schwule diskriminieren – Heinz hat es nicht mehr erlebt

Jeden Samstag war er dort und versuchte, etwas nachzuholen, das Wort „nachzuholen“, das war Heinz‘ Wort. Doch Heinz merkte schnell: „Das klappt nicht, wer will schon alte Schwule, so einen alten Zausel wie mich?“

Hätte es damals schon Dating-Portale im Internet gegeben, sie hätten Heinz sicherlich erheblich verstört, weil es dort an der Tagesordnung ist, dass junge schwule Männer alten schwulen Männern mit zum Teil heftigen und nicht selten diskriminierenden Bemerkungen mitteilen, dass sie nichts mit ihnen zu tun haben wollen.

Und so pflegte Heinz seine Erinnerungen an den schönen Liebhaber und den Sex, der schon über ein halbes Jahrhundert her war. Oder er regte sich leidenschaftlich darüber auf, dass die Zeitung „B. Z.“ in seinen Augen immer schlechter wurde. Er konnte das ja beurteilen, er las sie ja schon seit über 50 Jahren. Heinz starb im Januar 2003, zum letzten Nikolaus-Essen war er schon nicht mehr erschienen.

Ohne erleben zu dürfen, was Heinz sich so sehr wünschte starb er: Die große Liebe. Die große homosexuelle Liebe. Er hat sie nicht erlebt, nicht mal eine kleine homosexuelle Liebe durfte er genießen. Heinz ließ sich anonym bestatten, die Clique erfuhr nur zufällig von seinem Tod. Danach ist die Clique zerbrochen, denn es gab keinen Mittelpunkt mehr und niemanden, um den man sich hätte kümmern können.

Bild: © Lebensort Vielfalt

Written by Holger Doetsch

Holger Doetsch ist Bankkaufmann, Redakteur und Autor verschiedener Bücher, unter anderem "Elysander" und "Ein lebendiger Tag". Im Journalismus kennt er alle Seiten des Tischs, er publiziert in mehreren Zeitungen und Onlinemedien, war Pressesprecher (u. a. in der letzten DDR-Regierung) und unterrichtet seit 1995 Journalismus, PR sowie Rhetorik an verschiedenen Hochschulen.

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