Vielfalt
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Warum »Vielfalt« ein wichtiges Lernfach ist

Wenn ein Titel schon mit »warum« beginnt, darf das der folgende Text auch: Warum müssen wir im Jahre 2017 immer noch diskutieren, welche Notwendigkeit darin besteht, schon Schüler über die tatsächliche Welt aufzuklären – und ihnen nicht die angeblich so heile Welt einer »Initiative Familienschutz« oder einer »Demo für Alle« vorzugaukeln?

Warum wir das müssen? Weil es immer noch – aus Tradition, aus Starrsinn oder aus Nichtwissen – antiquierte Positionen gibt, die es nichtheterosexuellen Menschen schwer machen, ihre Existenz zu rechtfertigen.

Für die Traditionalisten unter den Erzkonservativen ist die sexuelle Orientierung immer noch Teufelswerk – und wesentlich schlimmer als zum Beispiel Kindesmisshandlung, die auch heute noch ein alltägliches Phänomen in heterosexuellen Familien ist. 2014 wurden laut Polizeilicher Kriminalitätsstatistik 108 Kinder in Deutschland durch Gewalt getötet, über 4.000 weitere wurden Opfer von Misshandlungen. 2015 stieg die Zahl der Todesfälle auf 130 (zuzüglich 52 Tötungsversuche), die Zahl der angezeigten Misshandlungen sank auf 3.900.

Achtzig Prozent der betroffenen Kinder waren jünger als sechs Jahre. Das sind die Zahlen der offiziellen Statistik. Die Dunkelziffer liegt wesentlich höher.

Frauenrechte ja – Homorechte nein?

Von der »Initiative Familienschutz« und deren Frontfrau Hedwig von Beverfoerde, die sich so gerne auf das Kindeswohl berufen, hört man dazu allerdings nichts, viel dringender erscheint der verbissene Kampf gegen die angebliche »Frühsexualisierung« und das »Gender Mainstreaming«. Von letzterem profitieren übrigens insbesondere die als ausgesprochen reaktionär zu bezeichnenden Damen Beverfoerde, Kelle oder Kuby – denn das, was diese heute bekämpfen, ist die Fortsetzung der Emanzipation, die Frauen tatsächlich mal das Recht auf Selbstbestimmung eingeräumt hat. Jetzt, wo das erreicht ist, muss Schluss damit sein. Warum sollten andere Teile der Gesellschaft auch von diesem Recht profitieren?

»Frühsexualisierung« findet in Deutschland täglich statt. Auf der Straße, wo sich heterosexuelle Paare abknutschen, im Fernsehen, wo bereits zur Seifenoper-Zeit das Bett ein im Adams- und Evakostüm gern besuchter Kuschelort ist oder wo sich nachts nackte Frauen um telefonische Sexualkontakte bemühen. Alles gut, alles normal, alles schön – nicht wahr? Natürlich – es sind ja Heterosexuelle.

Aber wehe dem gleichgeschlechtlichen Paar, das seine Zuneigung füreinander öffentlich durch Händchenhalten demonstriert! »Skandal«, skandieren die Tugendwächter und meinen damit: »Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht das Selbe«.

Oder, wie es so schön heißt: »Natürlich dürfen die sich liebhaben, aber doch nicht in der Öffentlichkeit!«, ergänzt durch den ebenso falschen wie immer gern genutzten Hinweis, dass Homosexuelle ihre Sexualität grundsätzlich auf der Straße ausleben würden. Natürlich wird bei den Veranstaltungen zum Christopher Street Day viel nackte Haut gezeigt; das ist beim Karneval in Brasilien – in Deutschland ist es dann ja noch zu kalt – oder im Freibad bzw. am Strand auch nicht anders.

Das Motto von Beverfoerde & Co. lautet: Die Gesellschaft ist nur dann gut, wenn sie mein Weltbild verinnerlicht hat. Jedes Widerwort wäre Indoktrinierung. Merkste wat?

Ironie wird dem Thema nicht mehr gerecht

Nicht selten wird im Wegfall des § 175 StGB, des berüchtigten »Schwulenparagraphen«, der Grund für die Zunahme der Homosexualität und vor allem von Krankheiten wie HIV, Syphilis oder Hepatitis gesehen – gerade erst wieder in einem Kommentar zur Meldung über junge Flüchtlinge, die sich im Berliner Tiergarten prostituieren.

Diese Haltung kennt man von Kleinkindern, die sich die Hände vor Augen halten, damit sie nicht mehr gesehen werden. Hat nicht erst die Kriminalisierung von Drogen dazu geführt, dass heute in Deutschland niemand mehr Drogen nimmt? Hat nicht erst die Verschärfung des Bußgeldkatalogs dazu geführt, dass niemand mehr bei Rot über die Ampel fährt? Also muss der 175er wieder her, damit … ach nee. Das Thema ist zu wichtig, um mit Ironie betrachtet zu werden.

Homosexualität gab es schon immer, auch nach der erstmaligen Kriminalisierung 1532 durch Kaiser Karl V. (»Constitutio Criminalis Carolina«). Der 175er wurde in Deutschland 1994 ersatzlos gestrichen, HIV existiert in der aktuellen Form aber schon seit 1981. 55% der weltweit mit HIV infizierten Menschen sind Frauen. Und auch heterosexuelle Menschen sind vor Geschlechtskrankheiten nicht gefeit.

Ja und? Warum sollte man das im Schwarzweiß-Denken berücksichtigen? Dass Prostitution das älteste Gewerbe der Welt ist (oder, wie es bei Georg Kreisler in »Heute Abend: Lola Blau« heißt: der zweitälteste Frauenberuf der Welt), ist so lange okay, wie heterosexuelle Männer die Nutznießer des Angebots sind. Nach den Frauen, die sich aus welchen Gründen auch immer prostituieren (müssen), fragt niemand. It still is a man’s world … und manche Frauen (siehe oben) gerieren sich patriarchalischer als ihre maskulinen Pendants.

Kinder haften nicht für ihre Eltern

Dabei sind die Schüler, deren Schutz vor Frühsexualisierung sich die erwähnten Damen auf die Fahne geschrieben haben, oft schon wesentlich weiter. Viele von ihnen wissen, dass man »eher die Eltern fortbilden« müsse (Nordbayern.de, 10. April 2017). Und auch, wenn »schwul« nach wie vor ein Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen ist – man wird es nicht aus den Köpfen bekommen, wenn man die sexuelle Vielfalt totschweigt. Ganz im Gegenteil.

In der Kommentarspalte zum verlinkten Artikel kann man übrigens lesen, was Erwachsene auch heute noch denken: »Die Schwulen und Lesben müssen ihre Veranlagung gar nicht so sehr an die große Glocke hängen. Früher oder später merkt man das am Verhalten. Und ein bißchen [sic!] Hänseln werden diese Personen sicherlich aushalten.«

Diese Personen? Unbeschadet aller Lehrpläne sind homosexuelle Menschen Töchter und Söhne, Schwestern und Brüder, Tanten und Onkel, Kusinen und Vettern, Nachbarn und Freunde … und – potzblitz! – sogar Mütter und Väter. Letzteres ist übrigens nicht einmal der (ansonsten heterosexuelle) Sprecher der »Initiative Familienschutz«: Die Ehe von Sven und Beatrix von Storch ist kinderlos. Ist es dann nach dem Maßstab der »Ehe für Alle«-Verweigerer überhaupt eine Ehe? Nein. Hier muss sofort eine Zwangsscheidung her.

Familie ist da, wo Kinder sind

Im Rückblick auf eine Fachtagung zum Thema »Familie von morgen« schreibt Rainer Hörmann am 10. April auf evangelisch.de: »Die Definition „Familie ist da, wo Kinder sind“ ist heute gesellschaftlicher Konsens.

Erst dadurch wird statt eines normierenden Begriffs, wie Familie zu sein habe, die Funktion, die Bedeutung von Familien in den Blick genommen. Der Anstieg der Zahl nicht-ehelicher Kinder, die wachsende Zahl von Familien mit einem Elternteil, Patchworkfamilien, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit Kind sind (auch) Folgen eines gesellschaftlichen Wandels, der mit Pluralisierung, Enttraditionalisierung und Individualisierung von Lebensweisen umrissen werden kann.«

Aus der Enttraditionalisierung und Individualisierung lesen die konservativen Kreise den Wunsch nach Abschaffung der Familie – aber der steht gar nicht drin … nicht einmal zwischen den Zeilen. Die traditionelle Familie, die so gerne hochgehalten werden soll, entspricht dem schon lange überholten Leitbild der 50er Jahre.

Wenn es denn so sein soll, bitte sehr. Aber dann müssen Beverfoerde, Kelle, Kuby und wie sie alle heißen stante pede zurück an den Herd, marsch marsch. Wenn sie das nicht wollen, müssen sie notgedrungen die Gegenwart und noch mehr die Zukunft akzeptieren.

Bei der genannten Tagung bezweifelte Christopher Neumaier vom Zentrum für Zeithistorische Forschung an der Universität Potsdam – so Hörmann weiter – dann auch sehr deutlich den gängigen Vorwurf, dass mit der Individualisierung die Familie als solche abgewertet worden sei und dass überhaupt von einem radikalen Bruch mit familialen Modellen gesprochen werden könne.

Warum wird also mit allen Mitteln von den üblichen Verdächtigen gegen die Vermittlung der Vielfalt und damit gegen die Vielfalt an sich gekämpft? Der Grund ist einfach. Es geht um die Behauptung einer antiquierten Vormachtstellung. Eltern sollen ihre Kinder so unterdrücken dürfen, wie es ihnen passt – und der Staat soll per Betreuungsgeld und ähnlichen Geschenken dafür auch noch bezahlen.

Der »Initiative Familienschutz«, der »Demo für Alle« und ihren Anhängern geht es nur darum, staatliche Leistungen für den Nachwuchs in die Taschen der Eltern zu expedieren. Die Vielfalt könnte den Geldsegen zum Versiegen bringen. Wen kümmert da noch das Wohl der Kinder? Wer schützt die Vielfalt vor den Einfältigen …

Written by Matthias Gerschwitz

Matthias Gerschwitz, Kommunikationswirt, ist seit 1992 in Berlin mit einer Werbeagentur selbständig. Seit 2006 schreibt er Bücher zu verschiedenen Themen (»Ich erzähle gerne Geschichte anhand von Geschichten«); vorrangig wurde er aber mit seinen Büchern über HIV (»Endlich mal was Positives«) bekannt. Matthias hat schon in der Vergangenheit gelegentlich und aus aktuellem Anlass Artikel für Queerpride verfasst. Anfang 2015 ist er fest zum »netzdenker«-Team gestoßen.

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