Auf die Frage des Verfassers dieses Textes, warum er nicht in eine größere Stadt zieht, reagiert André verständnislos: „Das kann ich mir nicht leisten!“ Ein nur vorgeschobener Grund, wie sich schnell herausstellt, denn André will eigentlich gar nicht weg aus seinem Dorf, will sich allenfalls irgendwann und irgendwie eine Bude in Rostock besorgen, wenn er einen Job gefunden hat. Doch weiß er, dass die Chancen hierfür in einem strukturschwachen Land wie Mecklenburg-Vorpommern gering sind. Nach Berlin, Köln oder Hamburg will er nicht ziehen, weil sein Schwul-Sein eine Belastung für ihn ist und er an seinem „Anders-Sein“ nicht arbeiten, sondern es am liebsten „abschütteln möchte.“ Und, ja, er kenne natürlich die schwulen Bekenntnisse der Wowereits, Westerwelles und von Beusts, hat sogar schon mal was von einem Rosa von Praunheim gehört. Doch nun scheint das Unerklärbare oder das Unbegreifliche Besitz von André zu nehmen, es blitzt völlig unvermittelt gar eine gewisse Wut in ihm auf, und André ruft eine Spur zu laut aus: „Und? Was nützen mir diese Paradiesvögel hier? Nichts! Sie sind weit weg!“
Gay-Sex als „Unfall“
André weiß immerhin, dass er nur Männerkörper begehrt. „Ältere Männer“ wie er es betont, und „mit Frauen nichts am Hut hat.“ Doch kann es in Andrés Leben kein Vorbild geben, niemanden, der ihm ein schwules Leben vorleben könnte, weil er selbst kein schwules Leben leben will. Und sein Ausflug in den Rostocker Stadtpark? Sein Gang mit dem Journalisten ins Hotel? Alles das bezeichnet er als „Unfälle“ – die passieren ja auch, ohne dass man sie will…“. Alles in allem verstehe er sich mit seinen Eltern „ganz gut“, meint André, die Frage aber danach, was denn wohl passiere, wenn er ihnen seine Homosexualität gestehen würde, bleibt ohne Antwort. Doch treibt ihm diese Frage eine gewisse Panik in seine Augen, was als Antwort genügt. Ein Coming-out komme für ihn nicht infrage, sagt André dann doch, was bei ihm schon deshalb wenig verwunderlich ist, weil ein solcher Prozess ja das eigene Akzeptieren voraussetzt. Und es ist gut vorstellbar, dass Andrés Eltern, die selbst schon in diesem Dorf groß geworden sind, wohl alles das denken und vielleicht sogar sagen würden, was inzwischen im Drehbuch einer jeglichen Soap als unglaubwürdiger Dialog rausfliegen würde: „Und wer schenkt uns jetzt Enkelkinder?“ – „Was haben wir falsch gemacht?“ Ob sie so was wohl fragen würden, will der Autor von André wissen. Und André nickt. Bleibt die Frage, ob sein Suizidversuch eine Kurzschlusshandlung war oder ob er eine Selbsttötung weiterhin als eine Möglichkeit in Erwägung zieht. André bricht in diesem Moment den Blickkontakt ab. Er schaut aus dem Fenster auf ein kleines Wäldchen hinter dem Haus und schweigt. Er schweigt sekundenlang, die wie eine Ewigkeit andauern, und er verkörpert in diesem Moment eine Fragilität, die schier unerträglich ist. Dann schaut er auf, sein Blick ist irgendwie leer, und er sagt: „Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“