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Kindeswohl-Argumentation ist Kindesmissbrauch

Kindesmissbrauch
© Olaf Kosinsky /CC-BY-SA 2.0 (via Wikimedia Commons)

»Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis«, weiß der Volksmund. In einer aktuellen Abwandlung müsste das Sprichwort heißen: »Wenn den konservativen Gegnern der #EhefürAlle die Argumente ausgehen, zaubern sie das Kindeswohl hervor.«

Nun also auch Du, meine Tochter Bruta …. ehhh … Annegret. Immerhin mal wieder eine Person, die Kinder zur Welt gebracht hat. Man muss schon dankbar sein, dass nicht nur Blinde von der Farbe reden, wie Merkel, Steinbach, Kauder und Konsorten, sondern auch Taube sich über schrille Töne beschweren. »Denn schließlich geht es nicht darum, wer welche Rechte hat, sondern um das Wohl der Kinder«, wird meine neue Brieffreundin Kramp-Karrenbauer in einem Interview der Welt vom vergangenen Samstag zitiert. Aha, staunt der Fachmann – und der Laie wundert sich. Es geht also auch nicht um die Rechte der Kinder. Sollen sie doch froh sein, dass sich die Politik um ihr Wohl kümmert. Aber das tut sie eben nicht.

Eigentlich bin ich es leid, immer wieder auf die 40.000 Kinder hinzuweisen, die pro Jahr von Jugendamt und Polizei aus verwahrlosten heterosexuellen Haushalten herausgeholt werden müssen. Dazu lernte ich jüngst eine interessante Sichtweise kennen: Die Polizei sei eine staatliche Erfüllungshilfe und Jugendämter – das kenne man ja – tickten auch nicht richtig. Man ist versucht, an Andrea »Pippi« Nahles zu denken: »Ich mal’ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt.«

Der Leiter der Rechtsmedizin der Berliner Charité, Michael Tsokos, und seine Kollegin Saskia Etzold prangern in ihrem im Januar 2014 erschienen Buch »Deutschland misshandelt seine Kinder« in dramatischer Weise an, dass rund 160 Kinder pro Jahr an den Folgen elterlicher Misshandlung sterben – Tsokos: »Die gefährlichsten Personen für Kinder sind Vater und Mutter« – aber das wird geflissentlich ignoriert. Man ist versucht, zynisch zu werden: Wenn jede Woche drei Kinder sterben, bleiben statistisch ja vier Tage, an denen Kinder am Leben bleiben.

Nicht, dass mich jemand missversteht. Ich finde Kinder wichtig – zu wichtig, um sie leichtfertig der elterlichen Obhut zu überlassen. In den 90er Jahren konnte man nachmittägliche TV-Talkshows sehen, in denen 14-jährige hochschwangere Mädchen ihre aktuelle Schwangerschaft mit der vorangegangenen verglichen. In späteren Jahren gaben nicht wenige Kinder als Berufswunsch »Hartz IV« an. Kinder aus – wir ahnen es – heterosexuellen Familien.

Ich bin nicht der Überzeugung, dass Homosexuelle per se die besseren Eltern sind. Auch ich halte die berühmte »Papa-Mama-Kind«-Familie für den Idealtypus. Ein Ideal ist erstrebenswert, allerdings eben nur (noch) selten zu erreichen. Aber ich wehre mich strikt dagegen, diese Konstellation exklusiv mit dem Namen Familie zu versehen. »Fast jede dritte Familie in Deutschland lebt nicht mehr nach dem klassischen Modell. 20 Prozent der Väter und Mütter waren im vergangenen Jahr alleinerziehend. Zehn Prozent lebten in nichtehelichen oder gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Zwar dominiert noch immer die Ehe das Familienleben der Deutschen, wie Daten des Statistischen Bundesamtes belegen.

Denn verheiratet sind 70 Prozent der Eltern in den insgesamt knapp 8,1 Millionen Familien. Aber 1996 waren es noch deutlich mehr, nämlich 81 Prozent.«, heißt es im Mikrozensus 2013, der größten jährlichen Haushaltsbefragung in Deutschland und Europa. Als Familien gelten dabei alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, bei denen mindestens ein Kind unter 18 Jahren im Haushalt lebt. Zu den Kindern zählen leibliche, aber auch Stief-, Pflege- und Adoptivkinder.

Wo bitte ist hier das Ideal? Um einen Vergleich zu bringen: Natürlich ist ein Abitur mit dem Notendurchschnitt 1,0 ideal – aber sind deshalb alle anderen Schulabschlüsse wertlos? Genau das wird mit der unsäglichen Diskussion um das Kindeswohl immer wieder suggeriert.

Wer kümmert sich eigentlich um das Wohl des unehelichen Kindes von Horst Seehofer? Den Papa kennt es wohl eher aus dem Fernsehen statt aus der gemeinsam besuchten Sandkiste. Ist also die Konstellation »Fernseher-Mama-Kind« für die CSU erstrebenswerter als das Glück eines Kindes, das statt in einem Heim oder einem verwahrlosten Haushalt in liebevoller Umgebung aufwächst – sei sie nun homo- oder heterosexuell?

Mit jeder Diskriminierung homosexueller Menschen – egal auf welcher Ebene – werden auch zumindest deren Mütter, wenn nicht gleich beide Eltern diskriminiert. Wer heute noch – wie der Chefideologe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Volker Kauder – in den Zeilen oder dazwischen behauptet, Kinder würden in homosexuellen Haushalten zur Homosexualität erzogen, brüskiert und diskriminiert meine Eltern. Und er beleidigt sie noch postum. Denn ich wurde nicht zu irgendeiner Sexualität erzogen. Ich wurde zu einem Menschen erzogen, dem Werte wichtig sind. Der Respekt vor anderen hat, und deshalb auch Respekt einfordern darf. Auch – und gerade von den Menschen, die behaupten, mich zu vertreten.

Es ist keine Frage von Diskussionskultur, wenn es abweichende Meinungen zu Themen gibt. Es ist eine Frage von sachlicher Unterfütterung dieser Meinungen, die eine Diskussion erst ermöglichen. Und wenn es keine Argumente für eine Meinung gibt, ist die Meinung vielleicht ein Denkanstoß, aber nur das und nicht mehr.

Die sachlichen Argumente liegen alle auf Seite der #EheFürAlle-Befürworter. Volker Beck, innenpolitischer Sprecher der Grünen, entgegnet auf das Interview mit der saarländischen Ministerpräsidentin: »Frau Kamp-Karrenbauer erweckt den Eindruck als ob es beim gemeinsamen Adoptionsrecht darum ginge, dass Homosexuelle künftig häufiger als Adoptionseltern in Frage kommen. Das ist falsch. […]

Das Kindeswohl ist bei jeder Adoptionsvermittlungsentscheidung das einzige ausschlaggebende Kriterium. Es gibt kein Recht für Erwachsene, sich einen Kinderwunsch zu erfüllen. Das gilt für adoptierende Einzelpersonen, kinderlose Ehepaare wie für gleichgeschlechtliche Lebenspartner*innen.

Das Jugendamt muss immer individuell prüfen und begutachten, welche Familie für das Kind die beste Umgebung ist. Allerdings gibt es keinen Grund, hier nach der geschlechtlichen Zusammensetzung der Eltern zu unterscheiden. Das ergab 2009 eine Studie der Universität Bamberg. Die Studie erfolgte im Auftrag des Bundesjustizministeriums und wurde vom Bayerischen Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg (ifb) und vom Bayerischen Staatsinstitut für Frühpädagogik in München (ifp) durchgeführt.«

»Kindeswohl« ist kein Sachargument, wenn es ausschließlich gegen uneingeschränkte Adoptionsrechte Homosexueller verwendet wird. »Kindeswohl« ist nur dann ein Sachargument, wenn es sich wirklich um das Wohl und die Rechte von Kindern gegenüber allen Erwachsenen handelt – und nicht, wenn Kinder als lebende Schutzschilde vor konservative Engstirnigkeit gehalten werden, so wie es in Deutschland immer wieder passiert, wenn Politiker aus ihrer ureigensten Sicht heraus argumentieren, aber niemals aus Sicht der Kinder.

Die stete Argumentation mit dem Kindeswohl ist in Wahrheit Kindesmisshandlung der übelsten Sorte.

Übrigens: Ich will nicht heiraten und ich will auch keine Kinder. Aber ich möchte die Wahl haben, mich bewusst für oder gegen etwas zu entscheiden. Just my two cents. Aber die spende ich gerne für die #EheFürAlle.
Matthias Gerschwitz

 

Written by Matthias Gerschwitz

Matthias Gerschwitz, Kommunikationswirt, ist seit 1992 in Berlin mit einer Werbeagentur selbständig. Seit 2006 schreibt er Bücher zu verschiedenen Themen (»Ich erzähle gerne Geschichte anhand von Geschichten«); vorrangig wurde er aber mit seinen Büchern über HIV (»Endlich mal was Positives«) bekannt. Matthias hat schon in der Vergangenheit gelegentlich und aus aktuellem Anlass Artikel für Queerpride verfasst. Anfang 2015 ist er fest zum »netzdenker«-Team gestoßen.

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