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Homophobe Gewalt in den »Streets of London«

© Kurt Löwenstein Educational Center International Team /CC-BY-SA 3.0

»I’ll show you something that makes you change your mind« heißt es in Ralph McTells Song »Streets of London«, als hätte er 1969 schon gewusst, dass aus dem damaligen »Swinging London« heute auch für Homo- und Bisexuelle ein »Dangerous London« geworden ist. Im Zeitraum August 2014 bis Juli 2015 wurden alleine in der englischen Hauptstadt 1.667 Fälle homophober Gewalt dokumentiert, was einem Anstieg von 30% gegenüber dem Vorjahreszeitraum entspricht. Gezählt wird, so die »Metropolitan Police« jeder Angriff, der »vom Opfer oder jeder anderen Person als homophob wahrgenommen wird, und der das Ziel hat, eine Auswirkung auf jene zu haben, die als lesbisch, schwul oder bisexuell bekannt oder wahrgenommen werden«.

Raus aus der Scham-Ecke!

Auch wenn die deutliche Steigerung zum Teil auf das – so merkwürdig es klingen mag – gestiegene Selbstbewusstsein homo- oder bisexueller Menschen zurückzuführen ist, die im Gegensatz zu früheren Jahren Übergriffe zur Anzeige bringen, anstatt vor Scham die Füße still zu halten und die Polizei begonnen hat, homophobe Angriffe endlich auch als solche zu benennen und separat auszuweisen, geben die Zahlen Anlass zu berechtigter Sorge. Im selben Zeitraum stiegen nämlich auch die Zahlen rassistisch, islamfeindlich und antisemitisch motivierter Übergriffe, allerdings ist die Zahl der homophoben Zwischenfälle in London doppelt so hoch wie jene der islamfeindlichen und dreimal so hoch wie jene der antisemitischen Angriffe.

Dunkelziffern machen Angst

Wie hoch die vermutete Dunkelziffer der nicht gemeldeten Übergriffe geschätzt wird, wurde nicht gesagt. Die Vermutung liegt nahe, dass sie kontinentalen Zahlen in nichts nachstehen dürfte. So geht das schwule Berliner Anti-Gewalt-Projekts Maneo davon aus, dass in der deutschen Hauptstadt etwa 80-90% der Fälle erst gar nicht gemeldet werden. Insofern sind die 225 dokumentierten Fälle homophober Gewalt im Jahr 2014 nur die Spitze des Eisbergs. In Wien gaben im selben Jahr bei einer Umfrage unter 3.161 LGBTI*-Mitgliedern etwa ein Viertel der Befragten an, schon einmal körperlicher Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. Die Dunkelziffer wird hier wie auch z.B. in Zürich ähnlich hoch wie in Berlin geschätzt.

Gewaltgrund Gleichstellung?

In Frankreich begann 2013 die Vorbereitung des gesetzgeberischen Prozesses zur Öffnung der Ehe auch für Homosexuelle, mit allen Nebenwirkungen wie wütenden Protesten und Demonstrationen; im selben Jahr wurden mehr als 3.500 Fälle homophober Gewalt gemeldet, überwiegend von 25-50-jährigen Männern außerhalb der Region Paris – ein Anstieg von 78% gegenüber dem Vorjahr. 2014 sank diese Zahl zwar wieder deutlich (2.197 Fälle), lag aber immer noch 10% über den 2013er Zahlen.

Auch wenn in Frankreich die Mehrzahl homophober Straftaten außerhalb der Hauptstadt gemeldet wurden, bieten selbst die schwulen Kieze der deutschen Großstädte nur bedingt Schutz. In Berlin z.B. wurden mit 44% die meisten Fälle homophober Gewalt im Szenebezirk Schöneberg verübt – in Neukölln waren es dagegen nur 7%.

Zögerliche Politik heizt die Stimmung an

Es sind nicht nur Herkunfts- oder kulturelle Gründe, aus denen homophobe Gewalt entsteht – auch die Zögerlichkeit der deutschen Politik, die Gleichstellung Homosexueller gemäß des Grundgesetzes endlich vollständig umzusetzen, gibt vielen Straftätern das Gefühl, »richtig« zu handeln. Wenn die Ministerpräsidentin des Saarlandes, Annegret Kramp-Karrenbauer, wissentlich falsche Behauptungen über das Anliegen »Ehe für Alle« aufstellt, der (kinderlose) Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Volker Kauder, Homosexuellen die Fähigkeit zur Kindererziehung abspricht oder die ebenso kinderlose Kanzlerin lieber auf ihr Bauchgefühl hört als auf die vielfältigen Signale aus dem Karlsruher Bundesverfassungsgericht, fühlen sich auch selbst ernannte »Sexualitätsexperten« wie Birgit Kelle, Hedwig von Beverfoerde, Beatrix von Storch und andere mit ihren haltlosen Verunglimpfungen im Recht. Und nicht zuletzt trägt auch die (insbesondere) katholische Kirche mit ihren bigotten Moralvorstellungen dazu bei, die Stimmung anzuheizen..

Written by Matthias Gerschwitz

Matthias Gerschwitz, Kommunikationswirt, ist seit 1992 in Berlin mit einer Werbeagentur selbständig. Seit 2006 schreibt er Bücher zu verschiedenen Themen (»Ich erzähle gerne Geschichte anhand von Geschichten«); vorrangig wurde er aber mit seinen Büchern über HIV (»Endlich mal was Positives«) bekannt. Matthias hat schon in der Vergangenheit gelegentlich und aus aktuellem Anlass Artikel für Queerpride verfasst. Anfang 2015 ist er fest zum »netzdenker«-Team gestoßen.

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