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§ 175 – Die Verschärfung im III. Reich

Die Hirschfeld-Stiftung arbeitet gegen Homophobie
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3. Teil

Nach dem Ende des Kaiserreichs hatte es zwischen 1922 und 1924 noch einmal schwache Versuche gegeben, den unseligen § 175 abzuschaffen, die aber im Parlament keine Mehrheit fanden. Mit dem Tag der Machtübernahme durch Adolf Hitler ist an ein solches Ansinnen erst recht nicht mehr zu denken.

Bereits in seiner ersten Regierungserklärung 1933 kündigt Adolf Hitler neue Maßstäbe der Rechtsprechung an: »Unser Rechtswesen muß in erster Linie der Erhaltung der Volksgemeinschaft dienen. […] Nicht das Individuum kann der Mittelpunkt der gesetzlichen Sorge sein, sondern das Volk.« Die Entscheidung darüber, was dem Volk dienlich sein könne, überlässt er dabei sich und der Parteiideologie. Zunächst wird die Bindung der Richter an das Gesetz weitgehend gelöst und ein Analogiegebot eingeführt, mit dem der Geltungsbereich einer rechtlichen Regelung auf bisher ungeregelte Fälle erweitert wird. Auf die juristische Bewertung der Homosexualität hat das zunächst keinen Einfluss, aber bereits Mitte 1934 beginnt die systematische Verfolgung Homosexueller. Sie wurde, wie Dr. Thomas Rahe, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, in einem »Lernen aus der Geschichte«-Beitrag aus dem Jahr 2010 zitiert wird, mit einer Pressekampagne vorbereitet. Diese knüpft an die Herabwürdigung und Verachtung von Homosexuellen durch weite Teile der bürgerlichen Gesellschaft und der christlichen Kirchen an. Auch hier dient – wie bereits 1907 – ein vorgeblicher Anlass als Handlungsgrund.

Ernst Röhm und die Nacht der langen Messer

»Mit der Machtübernahme Hitlers konnten die Nationalsozialisten nicht mit der für sie gewohnten Härte gegen die Homosexuellen vorgehen, da sie schließlich mit SA-Führer Röhm einen Homosexuellen in ihren eigenen Reihen hatten, welcher den antihomosexuellen Strömungen den Wind aus den Segeln nahm. Zwar wurde sofort damit begonnen, die homosexuelle Subkultur zu zerschlagen, doch gab es zu dieser Zeit noch keine persönliche Gefährdung der Homosexuellen; viele ihrer öffentlichen Treffpunkte wurden geschlossen, auch wenn einige wenige kurze Zeit später wieder eröffnet wurden. Der Einfluss Röhms ging sogar so weit, dass Homosexuelle trotz der Kenntnis von ihren sexuellen Neigungen noch Karriere in der SA oder der Hitlerjugend machen konnten.«, schreibt Thomas Losleben in seiner Studienarbeit »Homosexuelle als Opfer des Nationalsozialismus« an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Wintersemester 2004/2005. »Wie konnte es sein, dass eine antihomosexuell ausgerichtete Partei wie die NSDAP einen bekennenden Homosexuellen, welcher seine Veranlagung auch noch offen zur Schau stellte, in ihrer Führungselite duldete?«

Ernst Röhm, der 1923 maßgeblich am Marsch auf die Feldherrnhalle beteiligt gewesen war und zehn Jahre später dafür mit dem Blutorden, Verleihungsnummer 1 geehrt wurde, war bereits 1931 von Adolf Hitler zum SA-Stabschef ernannt worden und sollte die Sturmabteilung zu einer breit aufgestellten Bewegung ausbauen, mit der er das Selbstverständnis und das Auftreten der NSDAP maßgeblich prägte. Hitler brauchte die SA für den Straßenkampf, daher war Röhms Homosexualität für ihn zweitrangig. Überliefert ist sein Ausspruch: »Das Privatleben kann nur dann Gegenstand der Betrachtung sein, wenn es den wesentlichen Grundsätzen der nationalsozialistischen Anschauung zuwider läuft.« Offensichtlich tat dies Röhms Homosexualität nicht; allerdings wird von offizieller Parteiseite der Mantel des Schweigens darüber gelegt. Durch die Tabuisierung scheint es, als wäre die Partei auf einen moderateren Kurs gegenüber Homosexuellen eingeschwenkt. Die Presse jedoch schlachtet Röhms sexuelle Orientierung genüsslich aus; gelegentlich wird sogar behauptet, die gesamte NSDAP sei homosexuell.

Röhms Vision, die Reichswehr aufzulösen und in die SA einzugliedern, stößt auf wenig Gegenliebe. Zudem ist Röhm heillos mit dem Reichsführer SS, Heinrich Himmler, zerstritten; dieser fordert in seiner panischen Angst vor Homosexuellen immer wieder die Todesstrafe für schwule SS-Mitglieder. Schließlich gerät Röhm zusätzlich in einen offenen Streit mit Hitler, als er sich öffentlich jede politische Einmischung in die SA verbittet. 1932 wird die SA von der letzten Weimarer Regierung für drei Monate offiziell verboten; nach dem schnellen Ende des Verbots werden die Übergriffe auf Andersdenkende aber sofort wieder aufgenommen, die Gewalt nimmt zu. Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 feiert die SA mit Aufmärschen und Fackelzügen. Im Dezember 1933 ernennt Hitler Ernst Röhm zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich. Als Röhm weiterhin Sonderrechte für ›seine‹ SA einfordert, beschließt die Parteiführung, ihn zu liquidieren. Nach einem Gespräch mit Hitler am 28. Juni 1934 über die Zukunft der SA schickt Röhm die Sturmabteilung in einen vierwöchigen Urlaub. Bereits am Nachmittag des 30. Juni werden Röhm und weitere führende Mitglieder der SA verhaftet und ins Gefängnis München-Stadelheim verbracht. Dort wird Röhm am 1. Juli ohne Gerichtsverhandlung erschossen, nachdem er sich zuvor geweigert hatte, Selbstmord zu begehen. Die als Nacht der langen Messer in die Geschichte eingegangene Aktion kostet etwa 300 Menschen das Leben. Im Vorfeld der Säuberungsaktion hatte die SS Gerüchte über einen bevorstehenden Putschversuch sowie Röhms Homosexualität gestreut. Letztere war aber schon lange durch entsprechende Presseverlautbarungen bekannt.

Thomas Losleben: »Mit dem Tod Röhms war für Hitler der Weg für die Verfolgung Homosexueller endgültig frei, dieses für ihn unschöne ›Kapitel Röhm‹ beendet. Seinen schnellen Sinneswandel dokumentiert ein Befehl, welchen er bereits am 2. Juli, also einen Tag nach Röhms Ermordung, dem neuen SA-Stabschef Lutze erteilte. Darin heißt es: ›Ich erwarte von allen SA-Führern, daß sie helfen, die SA als reinliche und saubere Institution zu halten. […] Ich wünsche daher, daß alle SA-Führer peinlichst darüber wachen, daß Verfehlungen nach §175 mit dem sofortigen Ausschluß der Schuldigen aus SA und Partei beantwortet werden. Ich will Männer als SA-Führer sehen und keine lächerlichen Affen.‹«

Der angebliche Röhm-Putsch ist Auslöser für die Verschärfung des § 175 im Jahr 1935. Darin heißt es: »Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen lässt, wird mit Gefängnis bestraft. Bei einem Beteiligten, der zur Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war, kann das Gericht in besonders leichten Fällen von Strafe absehen.« Zusätzlich wird der § 175a eingeführt, der die Idee der »qualifizierten Fälle« aus dem Jahr 1925 wieder aufgreift: »Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei mildernden Umständen mit Gefängnis nicht unter drei Monaten wird bestraft: 1. ein Mann, der einen anderen Mann mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gewalt für Leib und Seele oder Leben nötigt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen: 2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Mißbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen: 3. ein Mann über einundzwanzig Jahren, der eine männliche Person unter einundzwanzig Jahren verführt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen: 4. ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern sich zur Unzucht missbrauchen läßt oder sich dazu anbietet.« Der Tatbestand der Sodomie, also der Unzucht mit Tieren, wird als § 175b eingeführt.

Dass der Begriff »widernatürlich« im § 175 in Zusammenhang mit Unzucht zwischen Männern entfällt, besagt nichts anderes, als dass die Beschränkung auf sogenannte beischlafähnliche Handlungen aufgehoben wird; es genügt, wenn »objektiv das allgemeine Schamgefühl verletzt und subjektiv die wollüstige Absicht vorhanden war, die Sinneslust eines der beiden Männer oder eines Dritten [zu] erregen.« (RGSt 73, 78, 80 f) Damit werden neue, viel allgemeiner gehaltene Straftatbestände geschaffen; nicht mal mehr eine gegenseitige Berührung ist erforderlich, um den Straftatbestand der Unzucht zu erfüllen. Gleichzeitig werden die angedrohten Strafen drastisch erhöht (bis zu fünf, bei schwerer Unzucht bis zu zehn Jahren Zuchthaus).

Bereits ab 1934 waren Homosexuelle ohne Gerichtsverfahren in Konzentrationslager gebracht worden. Genau wie nach der Eulenburg-Affäre 1907 steigt die Zahl der Verurteilungen auch nach der Affäre Röhm sprunghaft an: Waren es 1932 noch 801 Erwachsene und 114 Jugendliche, so sind es 1939 8.274 Erwachsene und 689 Jugendliche, die wegen Homosexualität bestraft werden. Insgesamt kommt es während des NS-Regimes zu etwa 50.000 Verurteilungen wegen homosexueller Handlungen. Die Zahl der Ermittlungsverfahren wird auf 100.000 geschätzt.

1936 wird beim Preußischen Landeskriminalamt die Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung zur reichsweiten Erfassung und Registrierung von Homosexuellen, welche nach § 175 oder einem anderen Sittlichkeitsverbrechen straffällig geworden waren, gegründet. Zunächst werden nur homosexuelle Mitglieder der NSDAP oder deren angeschlossenen Organisationen, Angehörige der Wehrmacht, Beamte, geistliche Ordensmitglieder, Juden sowie Personen, welche in der Zeit vor der Machtübernahme eine führende Stellung inne gehabt hatten, erfasst. 1937 wird die ständige polizeiliche Überwachung von Strichjungen angeordnet. Des Weiteren werden als Staatsfeinde bezeichnete Homosexuelle strenger kontrolliert. Trotzdem kann man nicht von einer lückenlosen Erfassung aller Homosexuellen sprechen. Allerdings nimmt die Verfolgungsintensität spürbar zu – und bei Anklagen gegen Homosexuelle kommt es immer seltener zu Freisprüchen.

In einem Erlass vom Juli 1940 legt Himmler fest, dass alle Homosexuellen, die mehr als einen Partner »verführt« hätten, nach Verbüßung ihrer Haft im Gefängnis oder Zuchthaus in ein KZ einzuweisen seien. 1941 erfüllt Hitler durch den Reinheitserlass die jahrelange Forderung Himmlers nach der Todesstrafe für Homosexualität in der SS.

Im KZ müssen Homosexuelle auf ihrer Häftlingskleidung einen rosa Winkel tragen. Sie nehmen eine Position am unteren Ende der Häftlingshierarchie ein und sind besonderen Schikanen ihrer Bewacher ausgesetzt. Im Lager sind sie weitgehend isoliert und haben kaum die Möglichkeit, sich gegenseitig zu unterstützen. Die Zahl der homosexuellen KZ-Häftlinge liegt bei 5.000 bis 10.000. Ihre Todesrate wird auf über 50% geschätzt. Damit gehören sie zu den nicht-rassisch verfolgten Häftlingsgruppen mit der höchsten Sterblichkeit in den Konzentrationslagern. (Quellen: Thomas Losleben, »Homosexuelle als Opfer des Nationalsozialismus«, Mainz 2004/2005; Dr. Thomas Rahe, »Lernen aus der Geschichte«, 2010).

Teil 1: Vom Ursprung der Homophobie: Strafrecht und Homosexualität bis 1851
Teil 2: Der § 175 – von Bismarck bis zur Weimarer Republik


Am 26. Juni 2015 wird im Deutschen Historischen Museum Berlin und im Schwulen Museum die Doppelausstellung »HOMOSEXUALITÄT_EN« eröffnet. Sie thematisiert, wie Homosexualität durch Gesellschaft, Kirche und Staat diskriminiert, seit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 von der Gesetzgebung kriminalisiert und von der Medizin pathologisiert wurde.

Written by Matthias Gerschwitz

Matthias Gerschwitz, Kommunikationswirt, ist seit 1992 in Berlin mit einer Werbeagentur selbständig. Seit 2006 schreibt er Bücher zu verschiedenen Themen (»Ich erzähle gerne Geschichte anhand von Geschichten«); vorrangig wurde er aber mit seinen Büchern über HIV (»Endlich mal was Positives«) bekannt. Matthias hat schon in der Vergangenheit gelegentlich und aus aktuellem Anlass Artikel für Queerpride verfasst. Anfang 2015 ist er fest zum »netzdenker«-Team gestoßen.

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