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Der § 175 nach 1945: Getrennte Wege und NS-Überbleibsel

Die Hirschfeld-Stiftung arbeitet gegen Homophobie
© Enough is Enough

Wer glaubt, mit dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur wäre auch das Ende des § 175 und der daraus resultierenden Verfolgung Homosexueller gekommen, sieht sich schnell getäuscht. Die sich abzeichnende Spaltung Deutschlands in Ost und West führt auch die Strafgesetzgebung auf unterschiedliche Wege. Vierter und letzter Teil des geschichtlichen Abrisses über Homosexualität und Strafrecht.

Bereits am 30. Januar 1946 verfügt der alliierte Kontrollrat mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 11 die ersten Strafrechtsänderungen bzw. Aufhebung von nationalsozialistischen Unrechtsparagraphen, doch das Sexualstrafrecht bleibt davon unberührt. Erst mit Einführung der Strafgesetzbücher in der Fassung der Bundesrepublik Deutschland bzw. der Deutschen Demokratischen Republik kommt es in den Fokus.

Während in der Bundesrepublik Deutschland die §§ 175 und 175a in der Fassung von 1935 – also der von den Nationalsozialisten verschärften Fassung – nach Maßgabe von Art. 123 Abs. 1 GG in das neue, bundesrepublikanische Strafgesetzbuch übernommen, da sie dem Grundgesetz nicht widersprechen, kehrt die DDR zur vor 1935 gültigen Fassung zurück; doch schon ab 1957 wird die einfache Homosexualität zwischen Erwachsenen kaum noch bestraft und 1968 aus dem Strafgesetzbuch getilgt. Stattdessen wird der § 151 zum ›besonderen Schutz der Jugend‹ eingeführt: »Ein Erwachsener, der mit einem Jugendlichen gleichen Geschlechts sexuelle Handlungen vornimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung bestraft.« Hier – wie auch in der Bundesrepublik – wird davon ausgegangen, dass die Initiative zu homosexuellen Kontakten grundsätzlich vom älteren Beteiligten ausginge – in der DDR allerdings nicht nur bei Männern, sondern auch bei Frauen. Mit Aufhebung der strafrechtlichen Sonderbehandlung entfällt 1988 auch dieser Paragraph.

Im Westen – genauer gesagt: in Westdeutschland – nichts Neues: Auch wenn die Straflosigkeit der Homosexualität in den Niederlanden, der Schweiz, Schweden und Dänemark auch bei einigen Richterinnen und Richtern im westlichen Nachkriegsdeutschland zu Bedenken über die Sinnhaftigkeit des § 175 führt, sind die Auffassungen geteilter den je: »So verurteilte 1951 das Landgericht Hamburg zwei homosexuelle Männer lediglich zu einer Ersatzgeldstrafe von 3 DM, […] andere [Richter legten] besonderen Ehrgeiz bei der Strafverfolgung an den Tag. 1950/51 ging eine Verhaftungs- und Prozesswelle durch Frankfurt. Zahlreiche Beschuldigte verloren ihre Stellung. Sechs Selbstmorde wurden bekannt. Von 1953 bis 1965 wurden in der BRD fast 100.000 Männer aufgrund von § 175 angeklagt, davon fast jeder zweite rechtskräftig verurteilt. Die Kriminalpolizei sprach dabei ganz offen von ›karteimäßig erfassten Homosexuellen‹ und observierte Verdächtige.«

Stichwort »Rosa Listen«: In der Bundesrepublik wurden Karteien aus dem III. Reich, die vom Krieg verschont worden waren, von der Kriminalpolizei weiter benutzt. Noch 1969, als einvernehmliche homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen straffrei gestellt wurden, waren z.B. in München 3.000 und in West-Berlin 4.500 Männer karteimäßig erfasst. Auch wenn nach 1969 alle diesbezüglichen Einträge im Strafregister gelöscht wurden, bestanden die polizeilichen Datensammlungen weiter. Auch heute noch darf die europäische Polizeibehörde Europol Informationen über die sexuelle Orientierung speichern.

Zurück in die 50er Jahre: Das Bundesverfassungsgericht lehnt Klagen gegen den Fortbestand des NS-Fassung des § 175 kategorisch ab. Begründung: Der Straftatbestand sei »ordnungsgemäß erlassen und von den Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft hingenommen« worden und habe »seither jahrelang unangefochten bestanden.« Auf eine Verfassungsbeschwerde zweier Männer im Jahre 1955 erwiderte das BVerfG: »Von 1945 bis zum Zusammentritt des Bundestages herrschte in den westlichen Besatzungszonen so gut wie einhellig die Meinung, die Paragraphen 175 und 175a seien nicht in dem Maße ›nationalsozialistisch geprägtes Recht‹, dass ihnen in einem freiheitlich-demokratischen Staate die Geltung versagt werden müsse.«

1957 urteilt das Bundesverfassungsgericht, dass Strafvorschriften gegen die männliche Homosexualität nicht verfassungswidrig seien. Weder verstießen sie gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 GG) noch gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2, Abs. 1 GG). Als Verstoß gegen den Gleichheitssatz hatte der Beschwerdeführer die Ungleichbehandlung von männlicher und weiblicher Homosexualität angeführt und des Weiteren die Behinderung der freien Entfaltung der Persönlichkeit kritisiert: »Zwar sei es richtig, so die Verfassungsrichter, dass zwischen den Geschlechtern ein Verbot der Unterscheidung besteht. Dies gelte aber nur dann, wenn der zugrundeliegende Lebenssachverhalt vergleichbar ist. Die Verfassungsrichter gingen aber davon aus, dass die männliche Homosexualität anders sei als die weibliche Homosexualität. Von ihr sollen größere Gefahren für die Gesellschaft und insbesondere für Jugendliche ausgehen, die eine Strafbarkeit rechtfertigten. Zudem sei die männliche Sexualität stärker auf einen bloßen Lustgewinn gerichtet. Daher neige der homosexuelle Mann dazu, einem hemmungslosen Sexualbedürfnis zu verfallen. Zudem bestehe für männliche Jugendliche eine höhere Anfälligkeit gegen Verführungen zum gleichgeschlechtlichen Sex. Darüber hinaus seien Dauerbeziehungen unter männlichen Homosexuellen seltener. Vielmehr neigen sie zu ständigem Partnerwechsel und lehnen familienhafte Bindungen ab. Außerdem bestehen Unterschiede im begehrten Alter des Partners sowie in der Prostitution. Nach alldem gingen die Verfassungsrichter von einer höheren Sozialgefährlichkeit der männlichen Homosexualität aus. Ebenso verneinte das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Zwar werde durch das Grundrecht das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gewährleistet. Da die männliche Homosexualität aber eindeutig gegen das Sittengesetz verstoße, sei die Verletzung der Achtung der Intimsphäre durch die Strafvorschriften gerechtfertigt.« Ein als solches definiertes »Sittengesetz« hat es – außer mit der Bezeichnung »sogenanntes« – allerdings nie gegeben.

Übrigens »forderte Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung am 20. Oktober 1952 eine ›konstante Zunahme der Geburten‹ sowie eine ›Stärkung der Familie und dadurch Stärkung des Willens zum Kind‹«. Und der erste Familienminister der BRD, Franz-Josef Wuermeling (CDU) sekundierte: »Nach den Erkenntnissen der Bevölkerungswissenschaft wird der zahlenmäßige Bestand der Elterngeneration erst dann im gleichen Umfang ersetzt, wenn jede überhaupt fruchtbare Ehe drei Kinder hat.« Und so begibt es sich, dass sich der »§ 175 in einer Reihe mit strengen Scheidungsgesetzen, der staatlichen Kontrolle über die Verbreitung von Verhütungsmitteln und dem Abtreibungsverbot« wiederfindet. (Nebenbei bemerkt: Die Wunschvorstellung von »drei Kindern« zieht sich aktuell durch den Familienkatalog der AfD-Politikerin Frauke Petry.)

Dafür findet die Haltung des BVerfG Einzug in andere Rechtsebenen: »Das Berliner Verwaltungsgericht bestätigte 1957 die Praxis der Behörden, ›den Führerschein solchen Bewerbern zu verweigern, die wegen begangener Sittlichkeitsdelikte vorbestraft sind‹, und begründete dies mit der ›Gefahr, dass sittlich labile Menschen leichter rückfällig werden, wenn sie über ein Kraftfahrzeug verfügen‹«.

1968 veröffentlicht der frühere Berliner Justizsenator Jürgen Baumann sein Buch »Paragraph 175«, in dem er drei Gruppen von juristischen Sichtweisen beschrieb: »Die erste Gruppe versuchte, ein von § 175 geschütztes Rechtsgut auszumachen, um damit die Bestrafung der Homosexualität zu rechtfertigen. Die zweite Gruppe erkannte zumindest in der ›nichtjugendgefährdenden und nichtöffentlichen Homosexualität‹ ein ›opferloses‹ Delikt und forderte daher konsequent dessen Abschaffung. Die dritte Gruppe ging davon aus, dass es für die Legitimität einer Strafvorschrift überhaupt nicht auf ein geschütztes Rechtsgut ankomme. Es sei nicht zu beanstanden, ›ein sozialethisch besonders verwerfliches Verhalten, dessen Begehung uns unerträglich erscheint, unter Strafe zu stellen‹, wobei insbesondere auf die Strafbarkeit der Tierquälerei und der Sodomie (§ 175 b) verwiesen wurde.«

Im amtlichen Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches 1962 schlägt das Bundesjustizministerium hinsichtlich des § 175 eine Rückkehr zur Weimarer Fassung vor. Dies wird aber zurückgewiesen: »Wo die gleichgeschlechtliche Unzucht um sich gegriffen und großen Umfang angenommen hat, war die Entartung des Volkes und der Verfall seiner sittlichen Kraft die Folge« (Drucksache Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, Drucksache IV/377). Diese unverhohlene NS-Diktion birgt ein weiteres Mal Nährstoff für eine breit angelegte Homophobie in der Bevölkerung; offensichtlich – aber immer noch ohne stichhaltige Begründung – scheint Homosexualität das Existenzrecht eines Volkes zu bedrohen.

1968 veröffentlicht eine Gruppe namhafter Strafrechtslehrer einen Gegenentwurf zum Strafgesetzbuch, in dessen Sexualrechtsteil »als schutzbedürftige Rechtsgüter nur die persönliche Freiheit und [der] Jugendschutz« angesehen wird. Dieser Entwurf ist die Grundlage des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts, das am 25. Juni 1969 durch die junge sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt auf den Weg gebracht wird. Die §§ 175 (einfache Homosexualität) und 175 b (Sodomie) entfallen, übrig bleiben die »qualifizierten Fälle« aus dem ehemaligen § 175 a, der zum »neuen« § 175 wird. »Die einfache ›Unzucht‹ definierte sich nun über eine ›doppelte Schutzaltersgrenze‹. Täter eines solchen Vergehens konnte nur ein Mann über 18, Opfer nur ein Mann unter 21 Jahren sein. Dies führte zu merkwürdigen Fallgruppen: Wenn beide Männer über 21 oder unter 18 Jahren alt waren, wurde keiner bestraft. War ein Mann über 21, der andere unter 21 Jahren alt, so wurde nur der Ältere bestraft. Wenn beide zwischen 18 und 21 Jahren alt waren, machten sich beide strafbar.« Dieser Wirrwarr veranlasst den Bielefelder Richter Helmut Ostermeyer in einem Beitrag zur Zeitschrift für Rechtspolitik 1969 zu der Aussage: »Man male sich die Folgen aus: Zwei gleichaltrige Freunde dürfen gleichgeschlechtliche Beziehungen miteinander pflegen, bis sie achtzehn Jahre alt werden, dann müssen sie drei Jahre pausieren, und nach Vollendung des 21. Lebensjahres dürfen sie ihre Beziehungen wieder aufnehmen. […] Man darf vermuten, dass der Gesetzgeber auf kaltem Wege das heiß umstrittene Sonderrecht für die Bundeswehr einschmuggeln wollte. So aber geht es nicht!« Im November 1973 wird auch diese Regelung verworfen und die Straflosigkeit ab dem 18. Lebensjahr eingeführt; aus »Unzucht zwischen Männern« werden »homosexuelle Handlungen«.

Das Ende des § 175 ist unspektakulär. »Der Bundestag hatte im Zuge der Rechtsangleichung zwischen den beiden deutschen Staaten nach 1990 zu entscheiden, ob der § 175 nun gestrichen oder auf die östlichen Bundesländer ausgeweitet werden sollte. In der DDR war seit 1957 niemand mehr wegen ›einfacher‹ Homosexualität verurteilt worden. Die letzte Sondervorschrift für Homosexuelle [der oben zitierte § 151] war aber erst 1988 aus dem DDR-Strafgesetzbuch gestrichen worden. 1994, mit Ablauf der Frist für die Rechtsangleichung, entschied sich der Deutsche Bundestag für den Wegfall des Paragraphen.«

Gerade dieses unspektakuläre Ende einer – nimmt man die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 zum Ausgangspunkt – 462-jährigen Strafverfolgung muss die Frage aufwerfen, warum Homosexualität überhaupt unter Strafe gestellt wurde. Bei objektiver Betrachtung aller Aspekte bleibt nur übrig, dass der Straftatbestand auf einen unbekannten Erzähler oder vielleicht sogar Autoren zurückgeht, der vor etwa 3.500 Jahren überlieferte, man solle nicht bei einem Knaben liegen wie bei einem Weibe, denn das sei ein Gräuel. Ein tatsächliches Gräuel ist es aber, dass auch heute der mittlerweile vor über 20 Jahren abgeschaffte Straftatbestand immer noch als Hass oder Phobie im Denken, Empfinden und Moralverständnis eines Teils der Bevölkerung existiert und qua Erziehung an folgende Generationen weitergegeben wird. Offensichtlich haben diese Kreise vom Ende des § 175 noch gar nichts mitbekommen.

»In den über 120 Jahren der Geltung des § 175 StGB werden ca. 140.000 Männer wegen gleichgeschlechtlicher Unzucht verurteilt. 50.000 Verurteilungen werden noch nach Kriegsende bis 1969 in der BRD ausgesprochen.«, schreibt Herbert Grziwotz in der Legal Tribune Online am 17.5.2012. Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der geringeren Bindungswilligkeit und der Ablehnung familienhafter Bindungen aus dem Jahr 1957 muss wie Hohn in den Ohren derjenigen Homosexuellen klingen, die für ihre Inhaftierung in Gefängnis, Zuchthaus und KZ des III. Reiches erst 2002 rehabilitiert werden. Gerade die Strafbarkeit verhinderte ja dauerhafte Bindungen; dieses zum Anlass einer Bestätigung des § 175 zu nehmen, bedeutete nichts anderes, als die Folgen der Strafbarkeit als Begründung für die Strafbarkeit heranzuziehen und Homosexuelle damit faktisch ein zweites Mal zu verurteilen.

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die gesetzliche Aufhebung der Urteile nach 1945 wird kritisch gesehen, da der Schwulen-Paragraph nie für verfassungswidrig erklärt wurde und die Strafurteile von der bundesdeutschen Justiz gesprochen wurden. Erst die Justizministerkonferenz vom Juni 2015 empfiehlt, dass die Opfer antihomosexueller Strafverfolgung durch § 175 StGB und anderer Bestimmungen zeitnah durch ein Bundesgesetz rehabilitiert und entschädigt werden müssen.

Man wird sehen.

(Quelle der Zitate)


Teil 1: Vom Ursprung der Homophobie: Strafrecht und Homosexualität bis 1851
Teil 2: Der § 175 – von Bismarck bis zur Weimarer Republik
Teil 3: § 175 – Die Verschärfung im III. Reich


Am 26. Juni 2015 wird im Deutschen Historischen Museum Berlin und im Schwulen Museum die Doppelausstellung »HOMOSEXUALITÄT_EN« eröffnet. Sie thematisiert, wie Homosexualität durch Gesellschaft, Kirche und Staat diskriminiert, seit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 von der Gesetzgebung kriminalisiert und von der Medizin pathologisiert wurde.

Written by Matthias Gerschwitz

Matthias Gerschwitz, Kommunikationswirt, ist seit 1992 in Berlin mit einer Werbeagentur selbständig. Seit 2006 schreibt er Bücher zu verschiedenen Themen (»Ich erzähle gerne Geschichte anhand von Geschichten«); vorrangig wurde er aber mit seinen Büchern über HIV (»Endlich mal was Positives«) bekannt. Matthias hat schon in der Vergangenheit gelegentlich und aus aktuellem Anlass Artikel für Queerpride verfasst. Anfang 2015 ist er fest zum »netzdenker«-Team gestoßen.

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