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Charlie Sheen ist HIV-positiv. Ja und? – Und Ja!

Charlie Sheen
CC BY-SA 2.0 Beyond My Ken

Lauter hätte man es wohl nicht ankündigen können: Viele Stunden lang bereitete der US-amerikanische TV-Sender NBC seine Zuschauer auf ein persönliches Statement von Charlie Sheen vor. In einer Exklusiv-Ausgabe des Magazins »Today« lüftete der Schauspieler dann gestern das Geheimnis, das eigentlich schon keines mehr war: »I am here to admit that I am, in fact, HIV-positive.« Die Resonanz in den sozialen Netzwerken war vorauszusehen. Von »God bless you« bis »I couldn’t care less« in Kurz- und Langversionen reichten die Reaktionen. Nur wenige Stimmen widmeten sich der Infektion selbst; die meisten fielen über den bis zu seinem Rauswurf bei »Two and a Half Men« bestbezahlten amerikanischen Fernsehschauspieler her.

Natürlich hat Charlie Sheen viel zu seinem Ruf als »Arschloch vom Dienst« selbst beigetragen: ein ausschweifendes Sexualleben, Gerüchte um Drogenkonsum, unflätiges Betragen und eine aggressive Grundhaltung haben dem Mann, der sich in »Anger Management« quasi selbst spielte, nicht viele Freunde eingebracht. Vor wenigen Wochen musste er nach Pöbeleien einer kalifornischen Bar verwiesen werden, in der Freunde von mir Stammgäste sind. Sie schütteln heute noch den Kopf über sein fragwürdiges Sozialverhalten.

Aber was hat das mit HIV zu tun? Richtig: nichts. Aber mit dem Kopf schütteln muss man auch bei Sheens Fernsehbeichte. Er wurde erpresst, hat Schweigegeld bezahlt und sich bei der Geheimhaltung des Virus’ in ein – wie er sagt – Gefängnis begeben, aus dem er sich mit dem öffentlichen Geständnis endlich befreien könne.

Beichte, Geständnis, Erpressung, Schweigegeld: Man kommt sich vor wie in einem schlechten Krimi aus spießig-muffigen Zeiten. Die »Berliner Zeitung« kündigt heute einen Bericht auf der Titelseite mit »Mutiges Bekenntnis« an. Sheen selbst behauptet, mit der Veröffentlichung seiner Infektion nicht mehr von Scham und Stigma reden zu müssen; ja, er versteigt sich sogar zu der Aussage: »Ich habe jetzt eine Verantwortung, mich zu bessern und vielen anderen Menschen zu helfen. Und hoffentlich wird das, was wir heute tun, Menschen helfen, die sich dann an die Öffentlichkeit trauen und sagen, ›Danke Charlie, dass du diese Tür aufgestoßen hast‹.«

Diese Tür wird aber von der (nicht nur) amerikanischen Bigotterie sofort wieder verschlossen. Matt Lauer, Moderator der »Today«-Show, nimmt ihn ins Kreuzverhör …

  • Haben Sie bewusst oder unbewusst das HI-Virus weitergegeben?
  • Haben Sie seit der Diagnose in irgendeiner Form ungeschützten Verkehr gehabt?
  • Haben Sie seit der Diagnose Ihren Sexpartnern vorher von der Infektion erzählt?
  • Gab es in Ihrem Leben ein wie auch immer geartetes Risikoverhalten, das HIV zur Folge hätte?

… und manifestiert damit alle Vorurteile, aus denen das Stigma resultiert, mit dem HIV-Infizierte auch heute noch kämpfen müssen.

Es ist die große gesellschaftliche Lüge, dass es keine Diskriminierung mehr gebe. Es ist ein »Ich hab ja nichts gegen …, aber …«. Warum gibt es nur wenige HIV-positive Menschen, die sich outen – und warum wird ihnen als erste Reaktion »Mut« unterstellt? Ist es nicht gerade die sogenannte Gesellschaft, die das Thema HIV – wie so viele andere – dermaßen tabuisiert und in die Schmuddelecke stellt, dass jeder Versuch, sich von diesem Stigma durch Öffentlichkeit zu lösen, als »mutig« gefeiert wird? Schafft sich die Gesellschaft ihre eigenen Helden, so nach dem Motto: »Komm raus mit deinem Geheimnis, dann feiern wir dich! Oder halte es unter Verschluss und fahr zur Hölle!« Es ist und bleibt ein Teufelskreis. Würden sich alle HIV-Infizierten outen, wäre das Tabu vorbei und alle Versuche der Diskriminierung liefen ins Leere. Aber nach wie vor outen sich viele nicht, weil sie –leider zu Recht – genau dieses Tabu und die Diskriminierungen befürchten. »Mutig« sind nicht die Menschen, die sich outen. »Mutig« sind diejenigen, die – ob infiziert oder nicht – tagtäglich durch Worte und Taten versuchen, aufzuklären, zu helfen, zu informieren, und damit der Diskriminierung in leider viel zu kleinen Schritten Einhalt zu gebieten. Mutig sind die, die trotz aller Rückschläge fest daran glauben, dass HIV kein Makel ist und nicht müde werden, diese Einstellung in die Welt zu tragen.

Ist es wichtig, dass Prominente zu ihrer Infektion stehen? Ja und nein. Zumeist entfachen sie ein Feuer, das aber schnell wieder verglimmt. Nachdem 1991 [!] der NBA-Star Magic Johnson mit seiner Diagnose an die Öffentlichkeit trat, schien es für einen Moment, als sei die amerikanische Gesellschaft aufgewacht. Lange hat’s nicht gehalten. Und als 2008 die »No Angels«-Sängerin Nadja Benaissa als positiv geoutet wurde, schien für einen Moment klar, dass HIV auch vor heterosexuellen Menschen nicht Halt macht. Auch das ist vergessen: In der gestrigen Ausgabe des ARD-Boulevard-Magazins »Brisant« wurde Wert darauf gelegt, dass »der Grund für seine [Sheens] AIDS-Erkrankung nicht Homosexualität« sei. Setzen, Sechs. Wann lernen Journalisten und solche, die sich dafür halten, endlich mal den Unterschied zwischen HIV und AIDS, den – dank unermüdlichen Präventionsmaßnahmen der AIDS-Hilfen und Aktivisten – schon viele Neunt- und Zehntklässler beherrschen? Und wann begreifen sie, dass bei einem Frauenanteil von weltweit über 50% der an HIV-positiven oder an AIDS erkrankten Menschen die Homosexualität gar nicht ursächlich mit der Infektion in Verbindung stehen kann?

In Deutschland können wir immer noch kotzen, wenn wir solche Dinge hören oder lesen müssen. Dabei sind wir schon wesentlich weiter als die USA, in denen die moderne Epidemie 1981 ihren Ausgangspunkt nahm. Hierzulande wissen etwa 85% aller Infizierten von ihrer Infektion, 70% davon sind in antiretroviraler Therapie, und bei wiederum 70% derjenigen liegt die Viruslast unter der Nachweisgrenze. Damit ist die Weitergabe einer Infektion praktisch ausgeschlossen. In den USA liegt die Dunkelziffer prozentual gesehen ähnlich hoch (etwa 15%), aber nur 37% derjenigen, die überhaupt von ihrer Infektion wissen, nehmen Medikamente. Und gerade mal bei 30% der in Therapie stehenden HIV-Infizierten liegt die Viruslast unter der Nachweisgrenze. Stigma, Diskriminierung, Intoleranz und altbackene Vorurteile führen dazu, dass sich viele Menschen gar nicht testen lassen und so fröhlich eine eventuelle Infektion weitergeben. Aber davor sind wir auch in Deutschland nicht sicher: Die Rechtsprechung unterscheidet, ob die Infektion bekannt ist oder nicht. Wer die Infektion weitergibt, aber nichts davon wusste, ist juristisch fein raus. So dämmt man die Infektion wahrlich nicht ein.

Charlie Sheen ist HIV-positiv. Ja und? Das sind 35,3 Millionen Menschen weltweit auch. Er, der gerade mal vor vier Jahren positiv Getestete, spielt sich nun zum Retter der Menschheit auf: »Wenn es einen Menschen auf der Erde gibt, der dieses Virus bekommt und ein Gegenmittel liefert, dann bin das ich. Ganz ernsthaft.« Der »Gala« waren übrigens Zitate dieser Art eine Meldung wert. Informationen über die Realität (Therapie, Lebensqualität etc.) oder über den Umgang mit HIV finden sich nicht darunter. Die »Schmuddelecke« ist eben wenig glamourös. Außer, es kommt ein Promi drin vor.

Charlie Sheen ist HIV-positiv. Und ja! Für einen kurzen Moment ist das Thema mal wieder in den Medien präsent. Aber garantiert nicht lange. Die Drecksarbeit muss dann wieder die Basis machen. Und die Basis macht die Drecksarbeit. Und sie macht sie richtig gut. Deswegen gebührt der Basis der eigentliche Applaus. Jeden Tag.

Written by Matthias Gerschwitz

Matthias Gerschwitz, Kommunikationswirt, ist seit 1992 in Berlin mit einer Werbeagentur selbständig. Seit 2006 schreibt er Bücher zu verschiedenen Themen (»Ich erzähle gerne Geschichte anhand von Geschichten«); vorrangig wurde er aber mit seinen Büchern über HIV (»Endlich mal was Positives«) bekannt. Matthias hat schon in der Vergangenheit gelegentlich und aus aktuellem Anlass Artikel für Queerpride verfasst. Anfang 2015 ist er fest zum »netzdenker«-Team gestoßen.

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